Gänsehaut unterm Hummelpelz     17. 4. 2014


Die Leiden der Flugsüchtigen

Rund eine Woche nachdem ich „Hummelerwachen“ online gestellt hatte, holt mich Robert bei der Bushaltestelle Satteins ab.

„Es ist haargenau so, wie du es beschrieben hast“, sagt Robert im Ton der Verzweiflung, während er seinen Wagen nach Schnifis steuert. „Sieh dir nur diesen Himmel an!“

Er ist makellos blau. Nur Gleitschirmflieger sind imstande, dem Wetter daraus einen Vorwurf zu machen.

 

„Ja, gemein“, bestätige ich.

„Gestern“, seufzt Robert und schiebt eine bedeutungs-volle Pause ein, „aber wer hätte das ahnen können?“

„Ich weiß“, sage ich, „Markus hat mir davon erzählt.“

„Beim 2. Höhenflug! Unfassbar!“

„Warum bist du auch zum Hensler hinauf, ohne den Schirm mitzunehmen?“, frage ich unbarmherzig. Mein Vorrat an Mitleid ist zur Gänze für mich selbst aufgegangen. Ich musste gestern den ganzen Tag mit einer Gebäude-Innenvermessung zubringen, während sich draußen die Quellwolken ungeniert vermehrten.

„Der Wetterbericht hatte Bise vorausgesagt“, rechtfertigt sich Robert. Da habe er sich gedacht, wenn er schon zum Enkelsitten eingeteilt worden sei, so könne er das auch in der Umgebung des Schnifner Startplatzes tun.

„Dieses Risiko würde ich nie eingehen“, gestehe ich und denke dabei an die Gnade, die mir bei der Innenvermessung zuteil geworden war. Ich musste nicht in Echtzeit leiden, sondern erfuhr erst abends, was ich versäumt hatte.

„Robert, mein Tipp fürs nächste Mal: Rappenlochschlucht.“

 

Zusehen müssen

„Weißt du, zuerst dachte ich mir gar nichts dabei“, beginnt Robert seine Schilderung des gestrigen Ausfluges. „Wir standen auf der Terrasse vor dem Henslerstüble und sahen zu, wie Milius’ Schüler starteten. Sie flogen geradeaus und stiegen. Keine Kurve, kein Kreis, immer nur geradeaus und immer nur Steigen, ganz sanft und ruhig. Um zehn Uhr Vormittags! Ich musste mich abwenden und scheuchte die Enkel wegen angeblicher Kälte ins Henslerstüble hinein. Drinnen aßen wir eine Jause und ich war beinahe soweit, den Spuk von vorhin zu vergessen. Da kommt Milius, erkennt mich, deutet zur Wolkenbasis hinauf und sagt voller Stolz: mein Schüler vom vorletzten Kurs!“

„Das ist bitter“, bekenne ich.

Robert schweigt. Er umklammert das Lenkrand wie eine Rettungsboje um nicht gänzlich in dieser schmerzvollen Erinnerung zu versinken. Plötzlich lässt er los, dreht beide Handflächen nach oben und schiebt sie nach vor zur Windschutzscheibe, als wolle er mir das makellose Himmelsblau auf einem Tablett servieren.

„Und heute?“ Seine Stimme ist laut. „Keine Wolke. Keine einzige, verdammte Wolke! Es ist so verhext, wie du geschrieben hast!“ Etwas leiser fügt er hinzu: „Sieht ziemlich stabil aus, nicht?“

Ich schaue ihn forschend von der Seite her an. Will er Zustimmung, um seine Empörung zu steigern, oder erhofft er sich Widerspruch?

„Es könnte auch Blauthermik geben“, formuliert er vorsichtig.

Also doch Hoffnung.

 

Erwartungen

An der Bahn trennen sich unsere Wege. Während auf ihn dort bereits die Enkel warten, muss ich erst den Schirm aus der Flugschule holen. Am Startplatz in der Schneise treffen wir uns wieder.

Obwohl es mittlerweile tatsächlich Grund zur Hoffnung gibt, ist Robert angesichts einiger aufkreisender aber auch stets wieder absinkender Gleitschirme von Zweifeln geplagt.

Die Enkel lagern unterhalb vom Startplatz in der Wiese und warten, bis ihr Opa in die Luft geht. Wenn ich ihm so zuhöre, bin ich fast geneigt zu glauben, Robert bräuchte im Moment nicht einmal einen Schirm dazu.

 

Kampf mit der Technik

Ich habe vor ihm ausgelegt und bin im Weg. Yeti-Leinen, dünn wie Zahnseide, widersetzen sich dem Versuch, möglichst rasch startklar zu sein. Angetrieben von Roberts meteorologischen Vorahnungen, aus denen der baldige Abwind schon eiskalt an mein Ohr weht, hebe ich endlich ab.

Die Enkel juchzen irrtümlich mir zu, glauben, dass ich winke. Dabei versuche ich bloß, die Plastikklemme meines Handschuhes, die sich in den A-Leinen verheddert hat, zu befreien. Das kostet mich den ersten Bart.

Gerne hätte ich auch noch die Halterung des Varios eingerichtet, aber dazu fehlt sowohl die Zeit als auch die Höhe, wenn ich nicht riskieren will, abzusaufen. Die Flugschule hatte mir eine seitliche Anbringung des Varios empfohlen. Näher am Ohr, quasi ein altersgerechtes akustisches Entgegenkommen und angeblich besser sichtbar, als bei der Montage am Frontcontainer des Retters. Aber die Nähe hat auch einen geriatrischen Nachteil. Beim Fliegen trage ich keine Lesebrille, sondern das Gegenteil davon. Fazit: Ich sehe nur verschwommene Pixel.

Als ich gewaltsam die Halterung weiter vom Körper weg biegen will, löst sich die Klemme samt Klettverschluss und das Vario baumelt kopfüber am Gurt. Es piepst kläglich. Immerhin etwas.

Mittlerweile ist der zweite Bart ohne Höhengewinn durchflogen.

 

Den Unkenrufen zum Trotz

Ein Blick nach oben zeigt: Robert, der alte Fuchs, hat es natürlich geschafft. Immer sind diejenigen, die vor dem Start am meisten Bedenken hegen, danach am höchsten. War das nicht auch in der Schule schon so? Man konnte doch darauf wetten, dass diejenigen, die angeblich nichts gelernt und nichts wissend zur Schularbeit antraten, die beste Note schrieben!

 

Mit viel Geduld und Konzentration gelingt es mir endlich zu Robert aufzuschließen. Eine letzte Inversion hält uns auf rund 1800 Metern Höhe gefangen. Über den Sattel oberhalb des Sendemastes pfeift der Nordwind drüber und versetzt die Thermik vom Hang weg. Der Einstieg ist schwer zu finden, aber diesmal ist das Glück auf meiner Seite. Ein unglaubliches Panorama eröffnet sich. Die Luft ist dermaßen klar, dass ich mir einbilde (dank Weitsichtbrille) ich könne die einzelnen Gebäude auf Lindau unterscheiden und eine halbe Umdrehung später, die Schneewächten im Rätikon zählen.

 

Robert ist direkt unter mir in der Bart eingestiegen. Ich muss sehr konzentriert und fehlerfrei fliegen, damit ich mit meinem Yeti den Abstand halten kann. Noch dazu, wo das Vario irgendwo piepst, mal laut, mal leise, je nachdem ob frei schwingend, oder eingeklemmt zwischen Bein und Gurtzeug. Schließlich sind wir ein Stück weit über dem Gipfel des Hoch Gerach und ich flüchte taleinwärts, um Abstand zu gewinnen. Zum einzigen Schirm, der sich mit mir in dieser Höhe befindet. Das mag blöd klingen, aber wenn ich die Steuerleinen los lassen und die Handschuhe ausziehen will, um das Vario neu zu befestigen, so brauche ich genügend Spielraum.

Aber dazu kommt es nicht. Robert geht mit auf meine vermeintliche Strecke. Nun gut. Wenn ich es bis hierhin ohne Sichtkontakt zum Vario geschafft habe, so kann ich es auch weiterhin.

 

Wintersterben

Ich schätze unsere Höhe auf rund 2.300 Meter. Ideal für eine Besichtigungstour des Walserkammes. Heuer sehe ich ihn zum ersten Mal. Um diese Jahreszeit ist er am schönsten. Während auf dem Gerach noch einzelne Spuren im Schnee auf menschliche Besuche hinweisen, ist die anschließende Bergkette seit Wochen unberührt. Unterhalb der Tälispitze finden sich auf manchen Schneeschollen parallel geschwungene Linien. Setzte man all die Bruchstücke wie in einem Puzzle zusammen, so ergäbe sich vielleicht eine Schi-Abfahrtsspur aus jenen Tagen, als noch eine geschlossene Firndecke auf dem Hang lag.

Der schmale Wiesengrat des Walserkammes ist im oberen Teil komplett ausgeapert. Vom Schneedruck hingebügelt, kleben die von der Herbstsonne verdorrten Halme platt am Boden. Braune Filzmatten, durch die bald erste grüne Blätter stechen werden.

Die Kraft der Frühlingssonne hat dem Winterkleid der Bergwelt enorm zugesetzt. Gleich Mottenfraß klaffen große Löcher im schmutzigen Weiß, das südseitig nur in geschützten Mulden überlebt hat. Hingebuddelt wie Dreckwäsche, die völlig aus der Mode gekommen ist und sich niemand mehr überstreifen wird.

Nordseitig des Walserkammes kauert der Winter trotzig im Schatten, greift mit langen Fingern in die steilen Rinnen, reicht fast bis zum Grat herauf. Die Schneehaut ist aber auch hier alt und rissig geworden, voller Schrunden und Furchen, in denen sich Geröll sammelt. Einzelne Steine haben Dellen geschmolzen, die Pockennarben gleichen.

Starr von oben – aus meiner Perspektive betrachtet, besitzt die verkrustete Oberfläche die Charakteristik eines Gletschers, wild und unpassierbar mit Spalten und Klüften. Aber die Optik täuscht, denn sobald man den Blick schweifen lässt, zu den Rändern hin, offenbart sich der Irrtum. Sie sind dünn und von der Bodenwärme wellig aufgebogen. Es ist nur eine Gletschertapete, die in Fetzen an den Hängen klebt, kurz davor, sich endgültig abzulösen und das darunter verborgene Blumenmuster freizugeben.

 

Obwohl ich den Walserkamm schon unzählige Male abgeflogen bin, ist der Anblick vom Wechsel der Jahreszeiten, dieser Kampf zwischen Kälte und Wärme, zwischen Beharren und Aufbruch immer erneut faszinierend. Zudem ist dies stets mein erster Streckenflug in der Saison und meine Augen saugen noch gierig alle Eindrücke aus der Vogelperspektive auf, als sähen sie die Welt zum ersten Mal von oben.

 

Frieren…

 

Fast eine Stunde lang bin ich nur mit Robert um die Gipfel und Grate gekreist, niemand kam uns in der Zwischenzeit nach. Meine Finger sind in der eisigen Kälte trotz dicker Handschuhe klamm geworden, das Vario piepst immer noch mit hängendem Kopf.

Robert kehrt nach Schnifis zurück, ich bin nun ganz allein. Die Thermik ist ruhig, der Nordwind kaum mehr spürbar. Ich kann die Steuerleinen loslassen und das Vario aus seiner misslichen Lage befreien. 2.500 Meter zeigt es an, als ich in Richtung Fraßen abdrehe. Ich hoffe, mich während der Talquerung etwas aufzuwärmen und ziehe die Finger aus ihren isolierten Höhlen zur Handfläche hin ein. Mit hocherhobenen Fäusten fliege ich über das Walsertal. Es nützt nichts. Die Kälte kriecht auch von unten durch die Hosenrohre, mir schlottern die Knie und meine Zehen sind ohne Gefühl.

Ich komme über grünen Wiesen an, aber trotzdem friere ich erbärmlich. Sogar das Vario ist verstummt. „Zum Glück“, denke ich und fühle mich irgendwie ertappt. Wo bleibt der fliegerische Ehrgeiz? Soll ich einfach landen gehen? Sehnsüchtig blicke ich ins Tal hinab, auf blühende Bäume und Spaziergänger in lauer Frühlingsluft.

 

… oder nicht mehr frieren?

Ganz automatisch habe ich die Richtung nach Ludesch eingeschlagen. Das erste zaghafte Piepsen des Varios ignoriere ich. Aber es wird lauter, fordernder und ich beginne gehorsam zu kreisen. So eine Thermik darf man doch nicht ungenützt lassen! Ich beiße meine klappernden Zähne zusammen und schraube mich in die Höhe. Aber ich bin unkonzentriert, meine tauben Arme agieren ungelenk, ich purzle aus dem Bart. Was soll diese Erleichterung? Es ist wohl an der Zeit ein ernstes Wort mit mir zu reden. Unabhängig von Steigwerten muss ich herausfinden, was ich eigentlich will. Das hätte ich besser vor dem Start gemacht. Einer unterkühlten Hirnmasse Antworten abzuringen, ist eine zähe Angelegenheit.

Die Schlüsselfrage lautet: Warum fliege ich überhaupt?

Zum Genuss? - Der hört sich bei dieser Kälte auf.

Zum Prahlen? – Dazu müsste ich mindestens bis zum Arlberg kommen.

Persönlicher Ehrgeiz? – Sag mal, bin ich mir Rechenschaft schuldig, wenn ich den heutigen Tag nicht bis zur letzten Thermik ausnütze, sondern lieber da unten einen heißen Tee trinken gehe?

Wenn es mir egal ist, was andere denken, kann ich auch damit leben, dass ich in meinen eigenen Augen eine Memme bin?

 

Das ist die Frage!

Während ich mich selbst ins Kreuzverhör nehme, gleitet Thomas vom Walserkamm zum Fraßen und dreht über dem Gipfel auf. Unschlüssig kreuze ich über dem Ludescherberg hin und her. Ich stelle mir vor, an Thomas’ Stelle zu sein. Was würde ich mit dieser Höhe jetzt anfangen? Wüchse daraus nicht die „Verpflichtung“ danach mindestens zur Elsa und zum Roggelskopf zu fliegen? Würde das nicht weitere Stunden in dieser Saukälte mit sich bringen? Wäre das eine Freude?

Plötzlich ist meine Entscheidung klar.

 

Als ich in der Löwenzahnwiese in Ludesch liege und mir die Sonne auf den Bauch scheinen lasse, umsurren mich pelzige Hummeln. „Ich brauche eindeutig ein dickeres Fell“, denke ich bei ihrem Anblick, „sonst bleibe ich ein Bodenbrummer und Genussflieger, nur am süßen Nektar interessiert“.

Aber vielleicht entspricht das ja eher meiner Natur als Gänsedaunen…