„Jetzt zieh den Retter!“
Ich höre Ralfs Stimme wie aus großer Entfernung, mein Kopf fühlt sich dumpf an, ein Gefühl von Schwindel befällt mich.
„Worauf wartest du? Zieh!“
Ich fasse den roten Griff, zerre den Rettungsschirm heraus und halte das weiße Paketchen am ausgestreckten rechten Arm.
„Geht doch“, sagt Ralf und nimmt mir das Päckchen ab.
Milius klinkt das Gurtzeug aus der Halterung des Simulators. Ich schwanke durch den Garten des Hotel Ideal in Malcesine zu meinem Stuhl zurück.
Sicherheitstraining am Gardasee
Ralf Reiter, Leiter der Flugschule Airsthetik in Schladming, erklärt die Manöver der ersten beiden Flüge. Von Nicken und Rollen ist die Rede, von Klappern mit und ohne Speed, Trudeln und Spiralen. Mir wird beim Zuhören ganz flau im Magen. Ist es Angst oder eine Nebenwirkung der Antibiotika?
Ich bin krank. Irgendwelche heimtückischen Bakterien haben sich vor drei Tagen in Stirn-, Nasen- und Nebenhöhlen eingenistet, die Gehörgänge verstopft und sind nun auf dem Weg, die Bronchien zu besiedeln.
Gerade als ich meine Teilnahme am Sicherheitstraining absagen wollte, rief mich mein Mann Milius an. Er müsse für den ebenfalls erkrankten Fluglehrer Simon einspringen und an seiner Stelle mit zum Gardasee. Hätte ich in diesem Fall zuhause bleiben können? Eben.
Also schluckte ich Antibiotika und fuhr mit.
Wir sind acht Teilnehmer. Ralf will von jedem die ungefähre Anzahl der Flüge wissen und wie oft man schon an einem Sicherheitstraining teilgenommen hat. Obwohl ich seit 23 Jahren Gleitschirm fliege, muss ich zugeben, außer Ohrenanlegen, zwei Seitenklappern und einem Fullstall noch nie freiwillig Manöver geflogen zu sein. Mein Schwerpunkt war das Drachenfliegen und mit dem „instabilen Fetzen“ flog ich nur, solange die Luft ruhig war. Erst in den letzten Jahren wagte ich auch Streckenflüge mit dem Gleitschirm (Stichwort „Hummelflüge“) und nun war es an der Zeit, über Wasser zu üben, was mich sonst über Bergen eventuell überraschen könnte.
Ich fasse ein Funk mit Headset aus, nehme die Schwimmweste und lege mich ins Bett.
Die Ruhe durch den Sturm
Am nächsten Morgen futtere ich mich quer durchs Frühstücksbuffet des Hotel Ideal. Die Tabletten sollen weich im Magen landen, um ihre laut Beipackstext häufigen Begleiterscheinungen wie Übelkeit, Schwindel und gedämpftes Reaktionsvermögen nicht voll entfalten zu können. Nach Müsli, Joghurt, Fruchtsalat, Croissants, Spiegeleiern, Tomaten und Käsebrot weiß ich wenigstens, warum mir schlecht ist.
Im Hotelgarten rascheln die Bäume, Kiwi, Birnen und Orangen schaukeln im Wind. Der See ist mit weißen Rüschen bedeckt, Surfer flitzen über die wellige Oberfläche.
Meine geplagte Nase bekommt im wahrsten Sinn des Wortes eine Verschnaufpause. Böen von bis zu 50 km/h am Landeplatz stören sogar den Spaziergang durchs verwinkelte Städtchen empfindlich. Malcesine ist ein steinernes Kleinod.
Mit runden Kieseln gepflasterte Gässchen zwängen sich durch antikes Gemäuer. Die sich gegenüberliegenden Balkone könnten sich das Geländer teilen, Geranien von hier und drüben verwachsen ineinander. Am Hafen schlägt das Wasser des Gardasees klatschend an den Steg, Gischt liegt in der Luft. Seltsamerweise schmeckt sie nach Meer. Von den unzähligen Stühlen der Cafes und Restaurants sind nur die leeseitigen besetzt. Der Sturm zerrt selbst hier an den Tischdecken und lässt die Eiskarten über den Tisch segeln.
Milius und ich flüchten hinter die massiven Mauern des Castello Scaligero, einer von den Langobarden errichteten Burg. Eintausendundfünfhundert Jahre hat die Festung auf dem Buckel. Ein Museum erklärt die wechselvolle Geschichte unter den verschiedenen Eroberern, mit der üblichen Zerstörung und dem Wiederaufbau. Vom Turm aus bietet sich ein grandioser Blick auf die roten Ziegeldächer von Malcesine. Das Blau des Gardasees ist leider immer noch gerippt.
Im Hotelgarten schaukelt Ralf entspannt im Gurtzeugsimulator. Theorie Teil 2. Ich frage mich, wie ich mir jemals die Reihenfolge von Innen- und Außenbremse, von Beschleunigung, Gewichtsverlagerung, Hände hoch oder Durchziehen merken soll.
„Mach einfach, was ich sage“, empfiehlt Ralf und deutet auf das Funkgerät.
Jetzt wird es ernst
Die Seilbahn auf den Monte Baldo ist in zwei Sektionen unterteilt, um die 1700 Meter Höhenunterschied zu bewältigen. Die Gondel ist gerammelt voll. Eine beklemmende Atemnot erfasst mich. Ringsum stieren mich dunkle Schweißflecken unter den Achseln emporgereckter Arme an. Warum hängen sich Menschen wie Affen in die Haltegriffe, wenn ein Umfallen gar nicht möglich ist? In der zweiten Sektion beginnt der 78 Personen fassende Plexiglaskäfig langsam um die eigene Achse zu rotieren. Panoramagondel. Damit jeder einmal durch die dunstbeschlagenen Scheiben einen Blick auf das kühle Blau des Gardasees werfen kann. Es dreht sich jedoch nicht die gesamte Kabine, sondern eine zentrale Personengruppe in der Mitte bleibt stabil. Das hat zur Folge, dass Leute allmählich ihre Gesprächspartner verlieren und sonderbar verloren auf Fremde einquasseln, Hunden die Leinen zu kurz wird und sie nach Luft japsen und Männer, die sich auf der Schulter ihrer Gattin abstützen, plötzlich ihre Hand auf dem Busen der jungen Frau von nebenan finden.
Von der Bergstation führt ein Schotterweg die wenigen Höhenmeter zum höchsten Punkt und fällt dann sanft zum Startplatz hin ab. Startgelände müsste es eigentlich heißen. Platz klingt zu beengt. Oder noch besser: Startparadies.
Ein mehrere hundert Meter langer Rücken, bedeckt von einem Rasen, der auch zum Golfen geeignet wäre, erstreckt sich von Süd nach Nord. Kein Busch, kein Stein verunziert das makellose Grün. Nur die schmale Narbe eines Wanderweges hat sich eingekerbt, sie trennt die Schaulustigen von den Piloten.
Ralf funkt, dass der Wind am Landeplatz nur mehr 20 bis 30 km/h beträgt und weiter abflauen wird. Piloten mit schnellen Schirmen könnten sich daher zum Start fertig machen.
Mir bleibt Zeit das Panorama zu genießen. Während das Blau des Sees durch die Dunstschicht im Tal gedämpft ist, heben sich die Berge ringsum klar vom Himmel ab. Im Norden umhüllt sogar Gletscherweiß die hohen Gipfel.
Es raschelt, ein Schirm fliegt in das goldene Nachmittagslicht hinaus. Der erste Pilot unserer Truppe. Ich sortiere meine Ausrüstung, binde mir die Schwimmweste um und stecke mir das Funkheadset ans Ohr.
Akustischer Vorgeschmack
„…Gute Nachricht: Der Schirm fliegt wieder. Du schaust zwar in die andere Richtung, aber das macht nichts. Gleich wird es dich ausdrehen.“
Von Rückwärtsfliegen war in der Vorbesprechung niemals die Rede!
„Na servus“, denke ich nervös und breite meinen Ion 2 aus. Die Funksprüche gehen im Rascheln des Tuches unter. Beim Leinensortieren höre ich wieder mit. Stefan ist dran.
„Super. Stoppen. Bleib drauf. Hände hoch!“
„Ja, sog amol?!“
Auf den überraschten Ausruf folgt eine kurze Pause. Sie endet mit einem nüchtern klingenden: „So.“
Danach klingt Ralfs Stimme, als hätte er Kreide geschluckt. In sanftem Plauderton fährt er fort.
„Stall ihn gleich noch mal, wenn’s geht. Falls du eingetwistet bist, Hände hoch!“
„Ok. Das war’s dann mal fürs Erste. Aber du hast noch fast tausend Meter Zeit. Versuch einmal an der rechten Steuerleine zu ziehen.“
„Das war links. Auch wenn du eingetwistet bist, ist rechts rechts. Stall ihn rechts weg.“
„Zieh!“
„Da tut sich nichts. Du musst kräftiger ziehen. Häng dein ganzes Gewicht dran, als ginge es um dein Leben. Zieh mit beiden Händen!“
„Komm Stefan, beide Hände auf die rechte Steuerleine und zieh, was geht!“
„Z i e h, w a s g e h t.“
„Ok. Der große Verhänger ist draußen, dafür bist du im Spiralsturz. Aber du hast noch genug Zeit,….“
Ralfs Stimme steht im krassen Gegensatz zur Situation. Sie klingt, als würde er einen Kindergeburtstag moderieren. Beruhigend, einfühlsam, betont langsam und deutlich. Dabei stürzt da draußen ein rotierendes Schirmknäuel mit einem verzweifelten Piloten in Richtung See. Unten lauern die weißen Boote.
Und jetzt ich?
Der Monte Baldo lehnt sich zurück, viel zu rasch erreiche ich den offenen Luftraum in der Mitte des Tales.
„So Martina“, tönt es an meinem Ohr. „Wir beginnen mit dem Nicken.“
Zur Antwort nicke ich automatisch mit dem Kopf, muss darüber lachen und überhöre prompt das erste Kommando.
Ralf ist geduldig.
„Aaaaanbremsen, Loslassen!“
Wie auf einer Schaukel beginne ich vor und zurück zu pendeln, beziehungsweise der Schirm nach vorne zu schießen.
„Aaaaanbremsen, Loslassen!“
Ein Knacken am Ohr. Stille.
Ich wiederhole das Manöver selbstständig, aber ohne weiteres Kommando werde ich unsicher. Mist, denke ich, das Kabel zum Kopfhörer muss einen Wackelkontakt haben. Hektisch versuche ich die Verbindung zu überprüfen. Aber trotz Verrenkungen komme ich nicht ans Funkgerät im Gurtzeug heran.
Wut steigt in mir auf. Hätte ich mir zuvor noch einen ruhigen Gleitflug gewünscht, möchte ich plötzlich nichts lieber als das Programm abzuspulen!
Genau in diesem Moment ist Ralfs Stimme wieder da.
„Aaaaanbremsen, Loslassen!“
Zur Antwort nicke ich diesmal mit dem Schirm.
Danach soll ich Rollen. Ich hab keine Ahnung, was ich tun muss und folge blind Ralfs Kommando.
„Rechts bremsen, halten, loslassen, links bremsen, halten loslassen, und wieder rechts und links und rechts und links…“
Mir ist kotzübel vom Hin- und Herschwingen. Außerdem verliere ich den Rhythmus, fasse einen kleinen Klapper aus und verweigere danach die Anweisung das Manöver zu wiederholen. Mein Streik wird akzeptiert, Ralf geht zu den Einklappern über, die ich, oder besser gesagt mein Schirm, mit Bravour meistere, dann folgt noch ein B-Stall und endlich die Landung.
Fester Boden unter den Füßen! Doch mein Gleichgewichtssinn übt weiterhin Wing-Over und gaukelt mir eine schwankende Welt vor. Mir ist schlecht und ich lege mich rücklings in die Wiese.
Im hohen Himmelsblau scheinen sich einige Gleitschirme verselbständigt zu haben. Sie ballen ihre Stoffhülle zu Fäusten, lassen eine Seite auf-springen, drehen abrupt zur Seite oder kippen haltlos nach hinten weg. Sie führen sich auf wie bockige Pferde und ziehen ihre überforderten Piloten an den Leinen hinterher.
Ralfs Eindruck ist natürlich ein anderer. Selbst aus dieser großen Entfernung erkennt er mit freiem Auge die jeweilige Flugphase des Schirmes und kann daraus das Pilotenverhalten ableiten.
Die Videoanalyse bestätigt Ralfs Adlerauge. Da nützt kein nachträgliches Leugnen wie „ich habe sicher nicht rechts gebremst!“, wenn das Zoom das Gegenteil zeigt und die Tonspur Ralfs Kommentar dazu einspielt: „Lass ihn fliegen. Hände hoch!“
Ralf ist ein Phänomen. Wenn wir mit den Manövern beginnen, sind wir rund 1.500 Meter über ihm. Die Luft ist dunstig trüb vom See, die Sonne blendet und trotzdem benötigt Ralf nicht einmal ein Fernglas um zu erkennen, dass jemand die Steuerleinen um 10 cm zu weit nach unten gezogen hat.
Ich muss gestehen, dass ich teilweise erst in der nachträglichen Videoanalyse mitbekomme, was ich da vorhin eigentlich aufgeführt habe. Dabei war ich hautnah am Geschehen! Aber den anderen Teilnehmern ergeht es ebenso.
„Niemals halte ich mich irgendwo fest!“
„Und was macht dann deine Hand an den Tragegurten?“
Die Filmaufzeichnungen sind schonungslos ehrlich. Aber genau darin liegt das größte Lernpotential. Ausflüchte oder Leugnen wirken angesichts des Bildbeweises einfach nur lächerlich. Während sich der Rest der Truppe köstlich amüsiert, sitzt man mit rotem Schamkopf vor dem Bildschirm und fragt sich, wieso man just das Gegenteil von dem tat, was Ralf über Funk forderte.
Die waghalsigen Beutelflieger
Nach dem Frühstück drehen sich Gespräche von Oliver und Uwe immer noch um Teebeutel. Es geht jedoch nicht um das Heißgetränk sondern um eine Starttechnik. Mittels Tea-Bag. Macht mich meine Erkältung schwerhörig? Aber „T-Back“ ergibt keinen Sinn, „debug“ zwar eher, klingt aber doch deutlich anders. Als man mich später aufklärt, dass es sich um einen „D-Bag“ handelt – hatte sich das Bild vom Tee-Beutel schon manifestiert. Passend, wie ich finde. Denn als Oliver unter Anleitung eines offensichtlich Origami-kundigen Fluglehrers beginnt, seinen Schirm zu falten und in einen kleinen viereckigen Sack zu stopfen, aus dem unten die Leinen hervorquellen, ist die Ähnlichkeit mit einem Teebeutel frappierend.
„Und was macht man damit? Taucht man den in den Gardasee?“
Die Vorfreude des künftigen Tee-Beutlers ist durch dumme Fragen nicht zu trüben.
„Ich lasse mich überm See abwerfen“, sagt Oliver mit glänzenden Augen.
„Wozu?“, müsste logischerweise die nächste Frage lauten.
Stattdessen sage ich: „Geil!“ und nehme Olivers Antwort vorweg.
Er nickt zustimmend: „Megageil!“
Zuerst muss der Tee-Beutel über dem Gardasee positioniert werden. Das sieht so aus wie es klingt. Ziemlich seltsam. Oliver hängt tief unter dem Sitz eines Tandempiloten, das schwarze Schirmpäckchen baumelt über seinem Kopf.
Die Details kenne ich bloß aus dem Video, das Olivers GoPro aufgezeichnet hat. Man sieht Oliver die Sicherungen konzentriert entfernen, als würde er Leinen-Mikado spielen. Wehe, etwas bewegt sich zu früh!
Dann beginnt der Countdown. Drei, zwei, eins – Oliver klinkt sein Gurtzeug aus, ist für einen Moment im freien Fall, zieht dabei mit den Tragegurten den Schirm aus dem D-Bag und – wusch – schon fliegt sein Yeti.
Ralfs Funkspruch steht in krassem Widerspruch zu Olivers Gesichtsausdruck. Emotionslos erklingt: „Jetzt können wir endlich mit den Manövern beginnen.“
Das ist mein Signal zum Start. Bis ich über dem See draußen bin, wird Olivers Programm fertig sein. Im langen Geradeausflug bleibt mir genügend Zeit, mich auf das Gegenteil, eine Steilspirale, einzustellen und mich davor zu fürchten. Lampenfieber gehört zu jeder Premiere.
Spirale mit Loopingansatz
In der irrigen und nie jemals überprüften Annahme, dass ein gutmütiger Schirm einen besonderen Impuls für die Steilspirale benötigt, hänge ich mein ganzes Gewicht auf die rechte Seite, lehne mich richtig weit über den See hinaus und ziehe die Steuerleine kräftig nach unten. In Sekundenschnelle kippt mein braver Ion aus der Steilkurve auf die Nase und schraubt sich nach unten. Mein Magen und ich stürzen hinterher. Das seltsame Gefühl von einem Fall ins Leere bei gleichzeitigem Hochgeschwindigkeits-Karussellfahren lässt meinen Kreislauf stocken. Schwarze Flecken tanzen über das rotierende See-Himmel-See-Himmelblau und verdichten sich zu einem Blackout. Hände hoch – ich ergebe mich. Bei einem Überfall mag das eine adäquate Reaktion sein, zur Ausleitung einer Steilspirale taugt sie wenig.
Als sich Schirm und ich endlich wieder in einer normalen Flugposition befinden, meldet sich Ralf mit trockenem Kommentar.
„Das glich jetzt eher einem Ansatz zum Looping. Wir wollen jedoch das kontrollierte Beenden der Steilspirale üben. Also, auf geht’s. Gleich nochmals.“
Ich keuche immer noch nach Luft.
„Wenn du nicht mehr willst, machen wir etwas anderes.“
Ich will aber!
Meinen zweiten Versuch starte ich vorsichtiger, mit weniger Impuls, dafür mit mehr Konzentration.
„Super! Das war schon viel besser. Jetzt in die andere Richtung! Und los geht’s!“
Als ich das Manöver halbwegs im Griff habe, geht Ralf zu den beschleunigten Klappern über. Technisch sind sie nicht besonders anspruchsvoll. Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dem Angstreflex (automatisch die Beine anzuwinkeln) zu widerstehen, wenn der Schirm schräg nach unten abtaucht. Die Füße müssen so lange ausgestreckt im Speedsystem bleiben, bis man selbst unter den Schirm gependelt ist. Erst dann ist ein Bremsen der Kappe angebracht.
Zu meiner und auch zu Ralfs Verwunderung behalte ich die Nerven.
„Braves Mädchen.“
Oder: Antibiotika sei Dank, ihr habt meine Reaktionszeit im richtigen Maß gedämpft!
Wenn’s läuft, dann läuft’s
Bei der zweiten Staffel möchte ich als erste raus. Es ist erst 14:00 Uhr und ich hoffe insgeheim auf einen dritten Flug. Ohne Manöver. Einen stinknormalen, ruhigen Gleitflug. Nervenbalsam, quasi.
Gerade als ich startklar bin, funkt Ralf, dass am Landeplatz ein Hubschrauber erwartet wird. Jemand hat sich verletzt. Allgemeines Startverbot.
Wie zum Hohn quellen über uns die Wolken, machen die Thermik sichtbar, die niemand nutzen darf. Das Warten nervt, die Zeit verrinnt und mit ihr die Chance auf ein dritten Flug. Endlich ertönt Ralfs Stimme.
„Der Hubschrauber hebt soeben ab.“
Ich auch.
Mit Vollgas fliege ich über den See hinaus, genieße alle Manöver, die mit raschem Höhenverlust einhergehen und lande um 15:40 Uhr.
Kurz darauf trifft Stefan ein. Auch sein erster Blick gilt der Uhrzeit.
„Es könnte sich ausgehen!“
Wir stopfen die Schirme ins Gurtzeug und hetzen zur Bushaltestelle. Andere Piloten versuchen vergeblich Autos zu stoppen.
„Fährt denn der Bus nicht mehr?“
Achselzucken.
„Wann geht die letzte Bahn?“
Die Antworten schwanken zwischen 16:15 und 16:30 Uhr.
Eine ungarische Filmcrew, die eine Doku übers Paragleiten dreht, bringt ihren Kleintransporter an der Bushaltestelle zum Stehen. Die Fahrer staunen nicht schlecht, als der Wagen von den wartenden Piloten regelrecht geentert wird. Wie die Sardinen hocken wir im fensterlosen Laderaum und jubeln über die Fahrgelegenheit zur Seilbahn.
Prego?
Dort angekommen, rennen Stefan und ich durch den Hintereingang zur Treppe. Eine dicke Kette versperrt uns den Zutritt. Dahinter wischt ein Mann seelenruhig Stufe für Stufe mit einem feuchten Mob. Unsere fassungslosen Gesichter irritieren ihn dann schließlich doch ein bisschen.
„Prego?“, fragt er vorsichtig, als hätte er Angst, wir könnten die Absperrung mit Gewalt durchbrechen.
Völlig außer Atem gestikulieren wir bloß. Stefan deutet auf seine Armbanduhr und zum Berg, ich fuchtle mit der Fahrkarte vor der Nase des Putzmannes als müsste ich eine Teufelsaustreibung vornehmen.
„Prego?“
Endlich findet Stefan seine Stimme wieder. „Baldo“, keucht er mit pfeifendem Unterton, „Monte Baldo!“
Wortlos deutet der Mann nach rechts. Zum anderen, zweiten Treppenaufgang.
Wir spurten hinauf, stecken die Karte in die Registrierung, klemmen durchs Drehkreuz und können direkt in die auf uns wartende Gondel einsteigen.
Glücklich patschen wir die Handflächen aneinander. Das wäre geschafft!
Wir passen auf die Wolke auf
In der Mittelstation kühlt unsere Euphorie ab. Eine halbe Stunde müssen wir warten, bis die Fahrt endlich weitergeht. Genügend Zeit, um Milius am Berg oben mitzuteilen, dass wir nochmals aufkreuzen, er sagt, er warte auf uns, und um Ralf zu informieren.
„Passt auf die Wolke auf“, mahnt letzterer. „Die letzte Talfahrt geht um 16:30 Uhr.“
Wir befinden uns eben in dieser letzten Gondel. Soll das heißen, wir dürften gar nicht erst aussteigen? Die ganze Hetzerei soll umsonst gewesen sein?
Tatsächlich wabern erste Nebelfetzen um die Bergstation, aber der Startplatz ist noch frei.
„Kein Grund zur Panik“, sagt Stefan als ich mit dem Schirm am Buckel im Laufschritt über den Monte Baldo eile.
„Kein Grund zur Panik“, sagt auch Milius, der mich amüsiert beobachtet, wie ich die Sachen aus dem Gurtzeug reiße, mich hektisch ankleide und einhänge.
Dann schiebt sich eine Wolke vor den Startplatz. Sie ist licht und hell, ich möchte sie durchfliegen.
„Warte fünf Minuten, bis die Sicht frei wird“, bremst Milius meine Ungeduld.
Das Gewölk ballt sich zu einer grauen Masse und verharrt vor mir. Allmählich breitet sie sich flächig aus wie eine Wand. Über mir leuchtet blauer Himmel. Ich klage ihn an.
„Wirf nicht immer gleich die Nerven weg“, sagt Milius.
Eine halbe Stunde lang starre ich in den Nebel, dann lasse ich die Arme sinken.
„Das löst sich bald auf.“
Irgendwann setze ich mich auf den Boden.
Ralf funkt, die Wolkenbank werde zunehmend dünner.
Ich liege am Rücken. Der Wind zerzaust meinen Schirm. Die Sicht beträgt nur mehr fünfzig Meter.
Ralf fährt mit dem Boot in die Seemitte um sich einen Überblick zu verschaffen.
Irgendwo im Süden erkennt er freie Gipfel, nur bei uns drängen sich die Wolken an den Berg. Ziemlich dick und weit ins Tal hinaus.
Ich krieche unter den Schirm. Mir ist kalt.
Blindflug
Jemand startet. Wir hören bloß das Rascheln. Die Leinen verlieren sich im Nebel, darüber gleitet schemenhaft die Silhouette eines Schirmes.
„Ralf“, funkt Milius, „gerade ist einer gestartet. Sag uns, wenn du ihn siehst.“
Stille. Gespenstische Stille. Totenstille.
Der Pilot taucht nicht wieder auf.
Klamme Feuchte heftet sich an uns. An den Leinen perlen Tropfen. Es wird düster. Unsere Gedanken kreisen um den verschollenen Piloten. Hat er mit den Nerven womöglich auch sein Leben weggeworfen? Niemand kann jetzt etwas für ihn tun.
„Macht es noch Sinn zu warten?“, fragt Milius nach endlos scheinender Zeit ins Funk.
Ralf räuspert sich. „Wir können den Landeplatz mit den Autoscheinwerfern beleuchten.“
Ein Nachtflug?
Ringsum lösen sich Gestalten aus dem Nebel. Wir sind nicht die einzigen, die am Berg gestrandet sind. Einige hatten gehofft durch den Abstieg zum untersten Rand der Startwiese, rund 150 Meter tiefer, freie Sicht zu erhalten. Vergebens. Sie steckten genauso in der Nebelsuppe. Umso größer war die Überraschung, als sich plötzlich ein Schirm aus dem Weiß löste. Der völlig orientierungslose Pilot schlug neben ihnen auf der Wiese auf. Welch glücklicher Zufall! Mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit hätte er gegen Felsen krachen oder sich in Bäumen verfangen können! Die Erleichterung über die gute Nachricht ist allgemein spürbar. Niemand ist verletzt, wir sind alle bloß in der Geiselhaft des Nebels.
Nachtflug?
Es ist 18:00 Uhr.
„Ralf?“
„Ja?“
„Löst sich die Wolke heute noch auf?“
„Irgendwann sicher. Ihr könnt aber auch die Schirme oben beim Refugio deponieren und zur Mittelstation absteigen. Dort kann ich euch mit dem Auto abholen. Schneller wärt ihr allerdings mit Fliegen.“
Stefan will nicht zu Fuß gehen. Typisch, denke ich bitter. Also warten wir weiter.
Es ist 18:30 Uhr.
Schluss, wir geben auf. Der Nebel ist derart dicht, dass wir das Refugio kaum mehr finden können.
Vier weitere Personen schließen sich uns an. Niemand kennt den Abstieg, aber hinter der Bergstation steht ein Wegweiser: San Michele, 2 ½ Stunden.
Wir stolpern über kantiges Kalkgestein abwärts. Stefan legt ein Tempo vor, das ich nicht mithalten kann. Beschämend. Stefan ist ein Deutscher.
Nach rund zweihundert Höhenmetern sehen wir plötzlich den See. Ein großes schwarzes Loch inmitten der vielen Lichter im Tal. An der Uferlinie verschmelzen die Leuchtpunkte zu einem hellen Band, das sich an das geheimnisvolle Dunkel schmiegt.
Hinter uns wird das Geräusch von polternden Steinen leiser. Zwei Piloten haben beim Anblick des Sees umgekehrt. Über uns blinken Sterne und wahrscheinlich ist der Startplatz jetzt nebelfrei.
Allerdings herrscht finstere, mondlose Nacht. Nur die bleichen Kalkfelsen reflektieren das Sternenlicht und weisen uns den Weg. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man in dieser Dunkelheit seinen Schirm auslegen und Leinen sortieren kann.
Als wir die ersten Ausläufer des niedrigen Buchenwaldes erreichen, wird das Gehen mühsamer. Trockenes Laub ist rutschig, ich falle mehrmals hin. Stefan nie. Verdammt! Muss ich tatsächlich meine Vorurteile gegenüber Deutschen revidieren? Stefan lacht. Humor besitzt er auch noch. Verdammt!
Nach siebenhundert Höhenmetern über Stock und Stein erwartet uns Ralf im Flugschulbus.
Wir haben das Abenteuer unverletzt überstanden. Glücklich steigen wir ein.
Ralf legt das Funk zur Seite. „Sie starten gerade“, sagt er.
Letzter Tag
Beim Frühstück fallen mir Uwes verschwollene Hände auf. Auch er betrachtet sie ungläubig. Die Finger sind mit Wülsten aus Brandblasen umringt.
„Ist beim Tee-Beutel-Start etwas schiefgegangen?“, denke ich entsetzt und frage, was denn
passiert sei.
„Das wüsste ich auch gerne“, antwortet Uwe kryptisch und tastet vorsichtig die Blasen ab.
Sein Zimmerkollege kichert.
„Lach’ nicht so blöd“, sagt Uwe.
Erst als Ralf eintrifft, erfahren wir – einschließlich des staunend zuhörenden Uwe – wie es zu den Verbrennungen gekommen ist. Ralfs trockene Schilderung steht im Gegensatz zum feuchtfröhlichen, gestrigen Abend.
„Der brennende Rum schwappte über den Glasrand und ergoss sich über Uwes rechte Hand, die daraufhin in Flammen stand.“
Statt aufzuschreien, das Glas fallen zu lassen oder es wenigstens abzustellen, habe Uwe interessiert das Feuer beobachtet, danach den Drink in die linke Hand genommen und die Flammen an der rechten ausgepustet. Der Umstand, dass nun auch die linken Finger brannten, habe bei Uwe zu neuerlicher Verwunderung geführt. Entsprechend lang dauerte die Verzögerung, ehe er das Glas behutsam auf dem Tisch absetzte. In etwa gleich lang benötigte der Schmerz um in den vom Alkohol trägen Gehirnwindungen einen Funken Bewusstsein zu finden. Schließlich habe Uwe überrascht: „Heiß!“ gerufen und beide Hände auf der Suche nach Abkühlung durch die Luft wirbeln lassen. Zu spät – wie die Brandblasen belegen.
Am Vormittag holen wir die Videoanalyse der Samstagflüge nach. Der Monte Baldo hüllt sein Haupt ohnehin in Nebel und wir versäumen nichts.
Die Filmaufzeichnung belegt, dass vor Uwes nächtlichem Absturz bereits ein fliegerischer erfolgte.
„Was ist denn jetzt passiert?“, ruft Ralfs Funkstimme entgeistert. „Ist dir der Retter ’rausgefallen?“
Ralf stoppt das Video bei dieser Sequenz und fordert Uwe zu einer Erklärung auf.
„Jetzt sag: War das Absicht?“
Uwe nickt.
„Aber wieso? Der Schirm ist doch g’flogen.“
„Ich war eingetwistet!“, entrüstet sich Uwe.
„Ja und?“
„Was, ja und?“
„Nimm dir ein Beispiel am Stefan. Der ist andauernd eingetwistet und behält trotzdem die Nerven. Du hättest noch 500 Meter Zeit gehabt, deine Situation in den Griff zu bekommen“, sagt Ralf unbarmherzig und lässt das Video weiter laufen.
„So schnell gibt man nicht auf, wenn man ein D-Bagger sein will“, ätzen die Funksprüche.
„Aber heute ist ja ein schöner Tag für den Retter, der See ist warm…“
Nass ohne einen Uwe
Alle – außer Uwe mit den von Brandblasen entstellten Fingern – fahren nochmals auf den Monte Baldo. Ein letzter Flug vor der Heimreise. Ich habe meinen ursprünglichen Entschluss, den Rettungsschirm übungshalber zu werfen, revidiert. Das Video von Uwes Wasserung hat deutlich gezeigt, wie unspektakulär und harmlos eine Landung am Rettungsschirm ist. Diese Erfahrung ist mir das Nasswerden nicht wert.
Unsere drei Schirme liegen noch in der Gartenmöbelkiste des Refugio. Zum Glück muss man in Italien nicht mit Diebstahl rechnen.
Es ist ein wunderbarer Tag. Über der Dunstsuppe im Tal liegt eine glasklare Luft, die Fernsicht ist phänomenal und die Schneeberge scheinen zum Greifen nah. Nun bereue ich, mich gegen zwei Flüge und der damit verbundenen späten Heimreise ausgesprochen zu haben. Weshalb glaubte ich, ein Flug würde reichen? War es eine Vorahnung?
Ich kündige Ralf an, nochmals Spiralen üben zu wollen und danach einen Full Stall. Den habe ich vor 22 Jahren unter der Anleitung von Milius über dem Ossiacher See geflogen. Ein einfaches Manöver, erinnere ich mich. Es kommt nur darauf an, die Hände mit den durchgezogenen Steuerleinen so lange unten zu halten, bis der Schirm wieder über einem ist. Denn beim „Stall“, dem englischen Wort für Strömungsabriss, sackt der Gleitschirm nach hinten weg und es erwächst daraus das gruselige Gefühl, rücklings ins Leere zu kippen. Genauso erlebe ich es jetzt wieder.
Ich stürze nach hinten.
Der kurze Moment dehnt sich zur angstvollen Länge. Dann beginnt das Tuch über mir zu schlagen und es beutelt mich ordentlich herum. Ich war bloß auf das Reißen an den Steuerleinen gefasst, nicht aber auf diese Pendelbewegungen. Auf Ralfs Kommando löse ich die Bremsen etwas, um den Schirm zu stabilisieren. Aber es war wohl ein ungünstiger Moment, gepaart mit einer unsymmetrischen Bewegung meinerseits und schon ist das Malheur passiert. Der Schirm schießt einseitig vor, klappt ein, öffnet zwar wieder, aber links außen haben sich Leinen und Tuch zu einem Knäuel verwurschtelt.
„Ein kleiner Verhänger“, wie Ralf konstatiert.
Klein aber wirkungsvoll. Ich muss rechts kräftig dagegen steuern, damit der Schirm nicht wegdreht.
„Zieh an der Stabiloleine“, rät mir Ralf.
Ich ziehe. Kräftig. So fest ich kann.
„Zieh. Kräftig. So fest du kannst!“
„Verflucht nochmal, das tue ich ja!“, brülle ich in den Himmel. Dann fasse ich mit beiden Händen nach der Leine und reiße sie herunter.
„Vergiss nicht auf das Gegensteuern! Du musst schon auf deine Flugroute achten!“
Lieber Ralf, alles gleichzeitig geht leider nicht, möchte ich antworten. Aber Ralf vergibt in weiser Voraussicht nur Funk-Headsets ohne Sprechtaste. Widerrede ist zwecklos.
„Versuch einen kräftigen Seitenklapper.“
Mach’ ich. Mit dem Ergebnis, dass der Wurschtel noch kompakter geworden ist. Ich beginne wieder mit dem Leinenziehen.
„Achte auf die Flugroute! Du bist mitten überm See. Komm her!“
Dann soll ich den Verhänger durch Ohrenanlegen loswerden. Nützt nichts. Noch ein Seitenklapper. Ohne Erfolg. Was ich auch probiere, der Schirm bleibt links außen eingeklappt. Ein lächerlich kleines Eck des Tuches hat sich zwischen die Leinen geklemmt. Doch die Hebelwirkung ist enorm. Der Schirm ist permanent gewillt, abzudrehen.
„Du kannst trotzdem so landen“, sagt Ralf. „Komm her. Du bist schon tief. Ich helfe dir.“
Dieses Mal hat sich Ralf verschätzt. Um gerade aus zum Landeplatz zu fliegen, muss ich derart kräftig gegensteuern, dass ich kaum mehr vorwärts komme. Das geht sich nicht aus.
„Das geht sich aus“, sagt Ralf.
Ich würde ihm ja gerne glauben. Höchstens 100 Meter trennen mich von der Landewiese.
„Ok. Geht sich doch nicht aus“, erkennt nun auch Ralf. „Aber das Boot ist schon unterwegs.“
Immerhin hatte ich Recht, denke ich triumphierend und klatsche ins Wasser.
Die Schwimmweste poppt wie ein Airbag auf und keine zwei Minuten später hieven mich kräftige Männerarme ins Boot. Triefend stolpere ich im Gurtzeug auf den Landeplatz, den Knäuel aus Leinen und bleischwerem Tuch über der Schulter.
„Hättest eigentlich noch ’nen Uwe machen können“, sagt Ralf zur Begrüßung.
„Einen Uwe??“
„Wenn du eh ins Wasser gehst, hättest zuvor wenigstens den Retter ausprobieren können.“
„Ist mir zwar in den Sinn gekommen, aber da war ich bereits zu tief.“
„Hast Recht, einen richtigen Uwe macht man in fünfhundert Meter Höhe“, lacht Ralf, „du bist bloß ’ne nasse Hummel.“