Hummelerwachen                     9. April. 2014

 

Alle Jahre wieder?

Zugegeben, ich bin heuer ein bisschen spät dran. Draußen schwärmen bereits Maikäfer um die Straßenlaterne. Aber die übertreiben in die andere Richtung. Wir haben schließlich erst Mitte April und es ist nicht sicher, ob sie die Fliegerei bis zu ihrer eigentlichen Hochsaison überhaupt durchhalten werden. Vielleicht geht ihnen das ewige Kreisen unter der Lampe bald derart auf den Sack, dass sie entnervt und entkräftet aufgeben müssen, bevor der Tag der Tage gekommen ist.

 

Ich fliege gerne. Noch. Denn es ist mir aufgefallen, dass ich am liebsten fliege, wenn ich nicht fliege. Also wenn mich etwas am Fliegen hindert, sei es eine Besprechung im Büro oder der plötzlich einsetzende Abwind in Schnifis am Startplatz. In solchen Momenten ist die Sehnsucht abzuheben und davonzuschweben unendlich groß.

 

Föhntage sind Schontage

Eine Schönwettervorhersage, gespickt mit dem Begriff Quellwolken und ein gleichzeitig voller Terminkalender lösen bei mir qualvolle Zustände aus. Depression und Wutattacken wechseln sich ab, bis endlich der erlösende Regen fällt.

Meine Umgebung leidet unter dieser Zumutung. Wenn ich an einem strahlend blauen Morgen im Büro erscheine, werde ich ängstlich gefragt, ob ich nicht lieber frei nehmen wolle, es sei doch sicherlich ideales Flugwetter, schließlich ginge „ein guter Luft“.

Die verstehen alle nichts vom Föhn, der mir eine kleine Verschnaufpause verschafft. Ich liebe Föhn. Das einzige schöne Wetter, welches mir keinen Flugzwang auferlegt. Befreit von Suchtsymptomen kann ich meine Vermessungs-Außendienste im Sonnenschein erledigen und auf der Heimfahrt nach Bludenz auf den schirmlosen Himmel über dem Walserkamm blicken, im Wissen, nichts versäumt zu haben.

 

Luxusprobleme

Nun habe ich das unverschämte Glück, mir meine Arbeit ziemlich frei einteilen zu können. Das macht mich zum Wetterprognosen-Junkie. Wie andere mehrmals täglich die Aktienkurse verfolgen, frage ich ständig die Vorhersagen ab, höre stündlich die Nachrichten, blicke fragend in den Himmel. Welchen Tag soll ich frei nehmen? Ist der Dienstag besser als der Mittwoch? Könnte am Donnerstag die Basis höher sein, oder wird es am Freitag zu windig? Die Meteorologen haben es einfach. Sie kleistern die ganze Woche mit Sonnensymbolen zu. Wie aber soll ich mich entscheiden? Wenn ich gar keinen Anhaltspunkt habe, beginne ich mit dem Dienstag (am Montag fährt die Bahn nicht).

 

- Dienstag

Mittags stehe ich am Startplatz. Kaum Aufwind. Der ganze Schnifisberg eine Abfolge von Inversionen. Selbst die Vögel hocken in den Bäumen und warten auf bessere Zeiten. Nach zehn Minuten Gleitflug schleppe ich den Schirm wieder ins Depot und rufe im Büro an. Bevor mich jemand fragen kann, wie hoch ich war, sage ich barsch, dass ich den Mittwoch ebenfalls frei nehmen müsse.

 

- Mittwoch

Tags darauf. Nach einem wolkenlosen Vormittag zeigen sich kurz vor Mittag erste Wölkchen über den Gipfeln des Rätikons. Wow! Die Basis ist vielversprechend hoch. Alles deutet auf einen perfekten Flugtag hin. Ich gondle mit der Schnifisbahn zum Hensler hinauf und male mir aus, wie zufrieden ich morgen auf den heutigen Streckenflug zurückblicken und die aufgeschobene Arbeit endlich in Angriff nehmen würde.

Als ich beim Hubert oben aussteige, ist der Berg in fahles Licht getaucht. Wie aus dem Nichts ist ein hoher Wolkenschirm aufgezogen und hat sich vor die Sonne geschoben. Die weißen Schleier verklumpen, bilden dicke Flocken, bald ist der ganze Himmel wie mit geronnener Milch überzogen. Ohne Strahlungswärme stellt die Thermik ab und die Cumuli, die sich bereits aufgetürmt hatten, fallen zusammen.

Ich warte. Ich warte lange. Ich warte, bis mir das Warten zu blöde wird. Kaum bin ich unten, sieht man über den Schweizer Bergen wieder das reinste Blau am Himmel nachrücken.

Der Moderator des abendlichen Wetterberichts findet den Wolkenschirm nicht einmal erwähnenswert. Er blickt strahlend wie sein Sonnensymbol auf den Tag zurück. Man müsste ihn verklagen.

 

- Donnerstag

Am Donnerstag leide ich wie ein Hund. Ich bin in der Arbeit. Irgendwann muss ich ja meinen nächsten Schirm verdienen. Verständnislose Kollegen werfen mir Unersättlichkeit vor: „Jetzt warst du doch eh zwei Tage in der Luft!“

Auf der Rückfahrt durch den Walgau kann ich nicht anders, als auf der Fensterseite mit Blick auf den Hoch Gerach zu sitzen (meine Art von Masochismus. Andere quälen sich online über das Abrufen vollbrachter Flüge über den XC-contest). Heute wäre ein guter Tag ein gewesen: Obwohl es bereits nach 16:00 Uhr ist, hängen bunte Schirme über dem Walserkamm.

 

- Freitag

Ich muss diesen Schmerz des Versäumnisses tilgen. „Chef, es geht nicht anders. Ich arbeite dafür am Wochenende. Da soll es regnen.“

Mit zahlreichen anderen Fliegern teile ich die Hoffnung auf eine Wiederholung der gestrigen Bedingungen. Die Wagemutigsten starten früh – und werden belohnt! Das animiert sogar die Vögel, die bislang abwartend im Geäst verharrten. Alles kreist in die Höhe. Ich denke noch, heute abzusaufen wäre fatal, aber da reißt die Thermik schon am Schirm. Sie zerrt rechts, dann links, kann sich offenbar nicht entscheiden und lässt mich kurz los. Das Tuch raschelt nervös, die Vögel flüchten, aber schon fliege ich in den nächsten Hammer. Während ich mit dem extremen Anstellwinkel kämpfe, den ich so gar nicht beabsichtigt hatte, fällt von oben ein halber Schirm herab. Hoppla! Mit einem Knall öffnet sich der eingeklappte Flügel, der Pilot fliegt mit gegrätschten Beinen vom Hang weg, ohne weitere Kurve in Richtung Landeplatz. So rasch kapituliere ich nicht vor den Turbulenzen! Schließlich sehe ich einige Gleitschirme schon über den Gipfeln.

Fast eine Stunde lang lasse ich mich durch die Gegend bocken, dann habe auch ich die Nase voll. Bei derart windigen Verhältnissen ist das Fliegen keine Freude. Im Gegenteil. Ich hasse es. Und dafür muss ich jetzt am Wochenende arbeiten.

 

Freitag Abend vor dem Fernseher: Der Meteorologe verkündet, dass sich die Kaltfront auf dem Weg zu uns über England verausgabt habe und nun höchstens zu einer vorübergehenden leichten Labilisierung am Wochenende führe. Sprich, anstelle des prognostizierten Regens werden tagsüber ein paar Quellwolken in den Himmel wachsen, die erst am späten Nachmittag zu Schauern neigen könnten. Nach diesem Zwischenspiel stünde uns wieder eine traumhaft schöne Woche bevor.

Ich versinke in tiefe Depression. Liege wie der Maikäfer bewegungslos am Rücken und frage mich, warum ich mir das Fliegen antue. Sollte ich nicht besser zu Minigolf wechseln?

 

Kapitulation vor der Sucht

Und weil ich mich das jedes Frühjahr frage, versuche ich den Saisonstart, mit dem mich dieser Virus regelmäßig packt, hinauszuzögern. Schitouren sind ein probates Mittel gegen die Flugsucht. Aber mein Widerstand schmilzt im April wie der Schnee dahin. Die Maikäfer konnten sich auch nicht länger zurückhalten. Andere Insekten surren schon seit März herum. Jetzt auch wieder eure Hummel.