Windige Ängste...
Die automatischen Türen der Gondelbahn schnappen zu. Ich komme mir vor wie in einer Falle. Gefangen in einem Wunsch, den ich gleichzeitig fürchte. Aber es ist mein eigener Wunsch. Das macht die Sache ja auch so kompliziert.
Ich wische mir verstohlen den Schweiß von der Oberlippe und beobachte Markus, meinen Mann. Er ist völlig gelassen. Dennoch wird meine Angst von seiner Stimme genährt. Pausenlos wiederholt sie in meinem Inneren: „Nachmittags darfst du im Montafon nicht landen, die sommerlichen Talwinde sind viel zu heftig.“
Zugegeben, diese Aussage ist über 20 Jahre alt und stammt aus einer Zeit, als ich mir einbildete, den zehnten Höhenflug ausgerechnet vom Hochjoch aus machen zu müssen. Markus hatte mir damals mit drastischer Schilderung der Konsequenzen, die sich aus Starkwind und Turbulenzen in Bodennähe ergeben können, die Dummheit meines Ehrgeizes klar gemacht.
Mittlerweile ist meine Naivität der Erfahrung aus etlichen Flügen gewichen. Der Talwind aber ist geblieben. Und ich bin ihm stets ausgewichen. Spätestens Ende Juni, wenn in Schnifis die Thermik von den Inversionen erstickt wird und der Abwind schon vor Mittag einsetzen kann, habe ich den Gleitschirm verräumt und mich fürs Wandern entschieden. Flüge von höher gelegenen Startplätzen im Montafon kamen für mich nicht in Frage. Das war etwas für Profis. Für Piloten mit schnellen Schirmen und ohne Angst.
Mit meinem gutmütigen Yeti, den ich mir nach der Umstellung vom Drachen- aufs Gleitschirmfliegen gekauft habe, fühle ich mich in der Luft wie eine Hummel. Hummeln fliegen nicht gerne rückwärts.
... oder eine Vorahnung?
Warum also fahre ich jetzt mit der Golmerbahn zu einem Startplatz im Montafon auf knapp 2000 Meter Höhe? Rechtfertigt mein Wunsch, einmal zu den drei Türmen zu fliegen, ein Risiko einzugehen?
„Du musst einfach früh genug landen“, riet mir ein Kollege. Ich empfand diesen Rat als Widerspruch. Einerseits soll der Golm idealer Ausgangspunkt für lange Streckenflüge sein, andererseits soll man bis spätestens 14:00 Uhr am Boden stehen!
„Die Rechnung ist einfach“, erklärte mein Kollege. „An einem Hammertag fliegst du ohnehin weg und landest ganz woanders oder erst am Abend. Ist die Thermik nichts Besonderes, bist du schnell wieder unten. Bei guten Bedingungen kann man schon um halb elf Uhr starten und hat somit drei Stunden Zeit herumzufliegen und trotzdem rechtzeitig ins Tal zu kommen.“
Das überzeugte mich. Jetzt allerdings, während wir in der Gondel immer höher schweben und die Landeplätze unter uns zu lächerlich kleinen Flecken schrumpfen, schwindet meine Zuversicht. Ich bin innerlich derart gespalten, dass ich mich gleichzeitig auf einen Thermikflug und einen ruhigen Abgleiter freue.
Eine Vorahnung?
Die Profis
In Latschau steigt Reinhard zu uns in die Gondel. Er sei heute auch zum ersten Mal am Golm, gesteht er. Ob er meine Zweifel teilt? Ich versuche meiner Stimme einen gefestigten Klang zu geben und frage, welche Ziele er sich für den Flug vorgenommen habe. Insgeheim hoffe ich auf Sätze wie „Zuerst einmal Höhe machen“, die ein Indiz für Unsicherheit sind. Aber Reinhard beginnt seine Aufzählung mit Bad Ragaz und endet irgendwo im Engadin. Augenblicklich ist mir klar, dass ich mit meinen Ängsten alleine bleiben werde. Ich reiße mich zusammen.
Am Startplatz treffen wir drei weitere Piloten. Niemand verschwendet auch nur einen Gedanken an den bösen Talwind, viel mehr führen die vielen, tiefliegenden Wolken zu ratlosen und enttäuschten Gesichtern. Die Wettervorhersage sprach von reiner Blauthermik. Jetzt stecken alle Gipfel in Wolken. Ich bin die einzige, die bei dem Anblick eine gewisse Erleichterung verspürt. Der Druck, mich bewähren zu müssen, fällt ab. Umso mehr wundere ich mich, als Armin allen Ernstes in die Runde fragt, ob jemand mit ihm gemeinsam zur Schesaplana fliegen will.
„Bei dieser tiefen Basis?“, wage ich einzuwenden.
Armin schaut mich verständnislos an. Bevor ich mich als ängstliche Hummel verrate, wünsche ich ihm lachend, dass wir uns bei der Schesaplana begegnen mögen.
Ein kurzes Rascheln, Armin ist in der Luft.
Markus grinst: „Dem Armin hast du mit deinem Wunsch nicht wirklich Freude gemacht.“
„Es war ein Scherz!“, rechtfertige ich mich.
„Ich weiß.“
Reinhard startet nach Armin, gefolgt von Steffen. Thomas und ich sind gleichzeitig mit Auslegen fertig. Markus hängt mir ein Funkgerät um, sieht mir in die Augen, lacht. „Kein Grund zur Panik“.
Er spricht in seinem beruhigenden Fluglehrertonfall. Das wirkt.
Jetzt!
Ich ziehe den Schirm auf, mache einen beherzten Schritt, rutsche bequem ins Gurtzeug zurück und bin begleitet vom ständigen Piepsen des Varios schnell überm Startplatz. Welch herrliche Thermik! Meine Angst ist im wahrsten Sinn verflogen und ich kann mich völlig dem Genuss des Fliegens hingeben. Ein abwechslungsreiches Panorama dreht sich im Karussell: Aus der Vandanser Steinwand ragt die Andeutung der Zimba ins Wolkenweiß, unten der tiefe Talschnitt des Montafons, wo sich Eisenbahn, Landstraße und Stromleitungen bei Lorüns den Platz streitig machen, dahinter die sattgrünen Wälder bis hinauf zum Gipfel des Davenna, mit der klaffenden Wunde eines Bergsturzes und seinen Trümmern im Schotterkar, erneut dichter Wald, Bäume wie gesträubte Nackenhaare am Grat, der Itonskopf jedoch kahl, unten lehnen sich die sanften Wiesenhänge vom Bartholomäberg gemütlich zurück, von zahlreichen Fahrbahnstreifen umgürtet, in der Mitte thront die Kirche auf ihrer Friedhofs-Festung. Der Blick reicht kurz ins schön geschwungene Silbertal, da schiebt sich das Hochjoch ins Bild: Scharfkantige Grate, mit Seilbahnkabeln verdrahtet, Wolkenfetzen zwischen Lawinenverbauungen wie zum Trocknen aufgespannt. Wieder fällt der Blick ins Montafon, nun an seiner breitesten Stelle, abgezäunte Ebenen, Parkflächen, leere Stadien und Tennisplätze, zwei Riesenzelte. Im Hintergrund verschmilzt Wolkenweiß mit Silvrettaschnee.
Vorne im Gegenlicht erhebt sich ein Grasrücken, eingeklemmt zwischen Tschaggunser Mittagsspitze und Schwarzhorn, dahinter folgen abrupt und kreidebleich die Ausläufer der Sulzfluh. Roher Kalk mit tiefen, schwarzen Schnittwunden, der Gipfel in dichte Wolken vermummt. Ebenfalls grau das Massiv der Drusenfluh, drei Türme sollten es sein. Man sieht nur den Schaft des kleinen Turmes, eine Felsnadel, die ins Wolkenkissen sticht. Davor, blank wie Aluminiumblech und in eigenartiges Licht getaucht: die Sporaplatte. Ich wundere mich, dass bloßes Gestein derart schimmern kann.
Wolkenbasis auf 2.500m
Der Panoramakreis lässt sich nicht vollenden, ich bin an der Basis. Vor lauter Schauen und Staunen habe ich gar nicht überlegt, was ich jetzt tun soll. Hastig funke ich Markus an, der soeben seinen Schirm unter mir startklar macht.
„Richtung Osten oder Westen?“, will ich wissen, während die Schleier sich ringsum verdichten.
„Westen!“, höre ich und folge brav.
Gleich darauf bin ich auf der Luvseite der Wolke und versuche die Höhe zu halten, bis Markus zu mir aufgeschlossen hat. Osten wäre mir sympathischer gewesen. Jetzt müssen wir unter der Wolke durch, wenn wir zur Tschaggunser Mittagsspitze wollen. Gerne hätte ich das per Funk abgeklärt, aber wahrscheinlich presse ich mit den behandschuhten Fingern immer die falsche Taste, denn es kommt keine Antwort. Das Funkgerät nervt. Es verheddert in den Gurten, bohrt sich zwischen die Rippen oder flutscht unter den Rettungsschirm, wenn ich es bedienen will. Es ist ein Schulungsfunk. Schüler sollen nicht quasseln, sondern zuhören.
Gemeinsam und doch einsam
Markus ist da. Und schon vorbei. Kommentarlos reitet er unter der Wolkenstraße das Golmerjoch entlang und wechselt hinter der Geißspitze auf den nächsten Grat, der direkt vom Gauertal aufsteigt. Ich versuche mit dem Yeti mitzuhalten. Das wird knapp werden, schätze ich meinen Gleitwinkel ein. Das wird verdammt knapp! Das wird - nichts!
Mein Schirm hätte es geschafft, aber ich wäre wohl am Grat eingeschlagen. Im letzten Moment musste ich abdrehen. Es fehlten höchstens zehn Meter. Das abrupte Manöver hat mich viel Höhe gekostet, jetzt dümple ich über den Wiesen der Latschätzalpe auf der Suche nach Aufwinden. Auch Thomas kämpft hier um jeden Meter. Allmählich arbeiten wir uns empor. Endlich zieht die Thermik an, wir sind gerettet! Beim zweiten Versuch klappt es.
Markus stochert in der Wolke vor der Drusenfluh herum, während er auf mich wartet. Eine immense Kraft hat diese Felsmasse aus unterschiedlichen Grautönen mit einem Batzen Rostrot verknetet. Wülste, Bögen und Verwerfungen zeugen von der Urgewalt. Steil strebt die Wand auf bis sie vom Wolkenweiß waagrecht geköpft wird. Ein schauriger Anblick, denn das Auge verlängert automatisch die Linie und ahnt den Gipfel hoch über sich. Mich fröstelt.
Unter mir endet das Gauertal. Die Alpweiden sind mit Steinblöcken gesprenkelt, ein Wanderweg windet sich hinauf zum Öfapass, markiert von bunten Anoraks. Nur 200 Meter Luft trennen mich von den Strapazen der Wanderer. Schnell den Gedanken ans Absaufen verdrängen!
Überwindung der Grenzen
Wo ist Markus?
Ich traue meinen Augen kaum. Schräg unter mir sehe ich seinen Schirm durch den schmalen Einschnitt des Schweizertors fliegen. Das erscheint mir sehr riskant. Oder beurteilt das nur meine Skepsis so? Kann man sich auf die Thermik der sonnenbeschienenen Südwände der Kirchlispitzen verlassen?
Ich möchte funken, mich vergewissern, aber die Antenne hat sich in der Jacke verkrochen, ich finde den Sprechknopf nicht. Ob Markus im Moment überhaupt antworten könnte? Ohne ein Anzeichen von Aufwind gleitet er im Sinkflug die senkrechten Wände entlang. Das sieht nicht gut aus.
Mein Zögern hat mich währenddessen in eine bessere Ausgangssituation gebracht. Instinktiv hatte ich weiter gekreist und habe nun die Möglichkeit die Drusenfluhwand an einer wolkenfreien Stelle zu überfliegen. Dieser magische Moment, in dem der Felsrücken jäh senkrecht in die Tiefe stürzt, ist unbeschreiblich. Obwohl der Schirm ganz ruhig darüber gleitet, bleibt das Körpergefühl am Blick kleben und fällt ein Stück weit mit in den Abgrund hinab. Ich könnte juchzen vor Freude, dass ich das erleben darf! Übermütig folge ich der Felswand Richtung Osten, möchte immer weiter diese Wand entlang fliegen, ignoriere die Sinkwerte am Vario.
„Sauf dort nicht ab“, mahnt die Stimme aus dem Funk an die Umkehr. Zu spät. Meinen Höhenvorsprung habe ich bereits verspielt. Ich krebse noch tiefer als Markus unterhalb der Kirchlispitzen vorbei und befürchte auf dem Wanderweg landen zu müssen. Da beginnt das Vario zögerlich zu piepsen. Ich fliege hochkonzentriert. Fingerspitzentechnik. Nur ja keinen Fehler machen. Markus funkt: „Komm zu mir, der Bart fängt an zu ziehen!“ Aber ich bin noch zu tief um einzusteigen. Bange Minuten vergehen.
Allmählich gelingt es mir, mich mit flachen Kreisen in seine Position versetzen zu lassen. Aber die Thermik flaut bereits ab, als ich sie endlich erreiche. Markus wurde mit ihr wie mit einem Fahrstuhl über den Gipfel katapultiert, mich lässt sie verhungern. Ein Steigwert von 0,2 Meter pro Sekunde. Das ist ein Hohn!
Mein Ärger wirft mich aus der Bahn, ich verliere selbst diesen Hauch von Aufwind und sinke wieder zu meinem Ausgangspunkt hinab. Zum Glück nimmt die Thermik einen zweiten Anlauf. Diesmal ist sie zwar nicht mehr so kraftvoll wie bei Markus, aber immerhin hebt sie mich zu den Kirchlispitzen hinauf.
Markus gönnt mir keine Verschnaufpause. Er peilt bereits die Schesaplana an. Oder zumindest das, was von ihr unterhalb der Wolke sichtbar ist. Ich finde das keine gute Idee.
Wie lange hält das Glück?
Es gelingt mir endlich zu funken.
„Was ist, wenn wir dort nicht weiterkommen?“, frage ich. In meinem Körper zirkuliert noch das Adrenalin aus der Beinah-Landung. Ich verspüre wenig Lust, den hart erkämpften Höhengewinn sofort wieder aufs Spiel zu setzen.
Markus antwortet prompt: „Ich sehe keinen Grund, weshalb ich hier absaufen sollte!“
Trotz schlechter Tonqualität ist die Verwunderung in seiner Stimme nicht zu überhören. Jede Diskussion wäre zwecklos. Also fliege ich ihm über das Gafalljoch, das wie eine grüne Brücke die beiden Felsgiganten Kirchlispitzen und Schesaplana verbindet, nach.
Rechts von mir neigen sich die Almwiesen zu einer hässlichen, riesigen Kieswanne hinab. Die Illwerke haben den Stöpsel gezogen und den Lünersee abgelassen. Das verbleibende Bisschen Wasser, eine Lacke, leuchtet matt. Ein kleiner Türkis in einer überdimensionierten Fassung.
Etwas enttäuscht wende ich meinen Blick nach links in die heile Welt der Schweiz. Heidiland, so weit das Auge reicht. In den aufgeräumten Tälern liegen vereinzelte Almhütten, schmale Wege steigen aus der Ferne zu ihnen auf, gehen in dünne braune Linien über, die sich am Gafalljoch schließlich vereinen. Da unten zu landen hätte strapaziöse Folgen.
Plötzlich fällt mir ein, dass Markus vorhin in der Ich-Form sprach, als er sagte, es gäbe keinen Grund zum Landen. Diesen Gedanken würge ich rasch ab. Denn in Wirklichkeit bin ich dankbar, dass er mir die Entscheidung abgenommen hat.
Vor mir wächst aus dem Grün des Gafalljochs das Felsmassiv der Schesaplana. Thermik setzt ein und hebt mich sanft über den scharfen Grat hinweg. Auf der Steinwüste der Toten Alp füllen Schneereste, vom Schmelzwasser gerippelt und mit dünnen roten Federstrichen aus Saharastaub gezeichnet, die Senken aus. Bunte Raupen, Kolonnen von Wanderern kriechen langsam das Steilstück zum Gipfel hinauf. In einer Wolkenluke erscheint kurz das Kreuz, eine Verheißung, ehe sich das Fenster wieder schließt.
Links von mir brechen die Felsen senkrecht ab. Anders als bei der kompakten Fläche der Kirchsplitzensüdwand, ist das Gestein der Schesaplana von Schluchten und tiefen Karen zerfurcht.
Markus ist vorausgeflogen und kommt mir nun entgegen. Er hat gesehen, dass ein Weiterflug Richtung Westen schwierig werden dürfte, Armin und Reinhard seien dort „nicht gerade hoch“.
Ich will jetzt aber nicht umkehren! Die Entdeckerfreude hat alle Bedenken besiegt.
Der Wunsch wird wahr
„Nur die Schesaplana noch“, funke ich und fliege einfach weiter, als ob Angst nie ein Thema für mich gewesen wäre. Ich möchte unbedingt einen Blick auf den Brandner Gletscher werfen. Vielleicht auch den Panüeler erreichen.
Meine Träume fliegen höher als ich. Leider. Kurz sehe ich das Eisblau zwischen den Gratzacken leuchten, bevor ich unter die Felskante sinke. Zeit zur Umkehr. Zeit um nach unten zu sehen: Niemandsland. Nicht einmal mehr Wanderwege.
Ich schleiche die Südwand entlang. Das Felsgrau ist dunkel, kein Sonnenstrahl durchdringt die dichte Wolke über mir. Warum saugt sie nicht? Im Gegenteil: Sinkalarm. Mein Puls beschleunigt.
Plötzlich überholt mich ein Schirm. Er ist etwas höher als ich. Armin!
Mein scherzhaft geäußerter Wunsch hat sich erfüllt: Wir beide begegnen uns bei der Schesaplana. (Nächstes Mal muss ich auf eine exaktere Formulierung achten. Nicht bei, sondern ÜBER der Schesaplana!)
Aber Armin, der Tausendsassa, hilft mir aus der Misere. Mitten in einer dieser trichterförmigen Schluchtansätze hat er einen Bart ausgegraben. Auch ich kann mich darin Meter für Meter höher schrauben.
Als ich endlich wieder an der Basis bin, sehe ich Armin nur mehr als kleinen Tupfer über den Kirchlispitzen. Dafür ist Markus da. Er hat auf mich gewartet.
„Was nun?“, will er wissen.
Schwierige Rückkehr
Ich bin unschlüssig. Eigentlich wäre mir am liebsten, zum Saulakopf und danach weiter an der Zimba vorbei ins Tal hinaus zu fliegen. Markus interpretiert mein Abbiege-Manöver jedoch falsch und sagt, das ginge sich nicht aus. Ich probiere zu funken und mich zu erklären. Das Funkgerät klemmt unterm Rettungsschirm fest. Als ich es endlich frei bekomme, ist Markus schon unterwegs zu den Kirchlispitzen. Er zieht es vor dieselbe Strecke retour zu fliegen. Seine Stimme am Funk klingt seltsam weit entfernt.
Bevor ich mich auf den Weg mache, muss ich nochmals Höhe tanken. Durchs Hantieren mit dem Funkgerät habe ich fast zweihundert Meter eingebüßt. Schließlich bin ich wieder an der Basis und starte ins sprichwörtlich Blaue. Vor mir haben sich die Wolken soeben aufgelöst, ein schlechtes Omen.
„Wenn ich bei den Kirchlispitzen ankommen werde, bilden sie sich neu“, sage ich laut um mir selbst Mut und Zuversicht zu geben. Der Himmel ist jedoch taub. Nicht der Hauch einer Kondensation entsteht und ich gleite mit gleichmäßigem Sinken den Gipfelgrat entlang, schwebe neben der Südwand hinab, steuere den Platz an, wo vorhin der rettende Bart stand. Vergebens. Die Wanderer winken. Ich kann schon ihre lachenden Gesichter erkennen! Ihre Freude teile ich nicht.
Die Felsen stehen in der prallen Mittagssonne. So nahe wie es meine Vorsicht zulässt, pirsche ich auf der Suche nach Aufwinden an sie heran. Kletterer klirren mit ihren Karabinern, Haken und Metallplättchen bei den Standsicherungen blitzen wie Spiegelchen auf. Ich fliege ohne Höhenverlust. Einen „Nullschieber“ nennt sich das im Fliegerjargon. Da die Luft ganz ruhig ist, wage ich mich noch näher an die Felswand heran. Nur die Flügelspannweite definiert jetzt den Abstand. Es ist ein wunderbares Gefühl, neben dieser steinernen Senkrechten zu gleiten.
Leider gewinne ich dabei keine Höhe. Es fehlen mir rund 10 Meter um den zum Schweizertor hin abfallenden Felsgrat zu überwinden. Also leite ich eine flache Kurve ein, in der Hoffung, es in der nächsten Runde zu schaffen. Aber plötzlich scheint mich eine unsichtbare Kraft von hinten anzuschieben. Es geht rasant abwärts. Ich bin ins Abwindband der durchs Schweizertor strömenden Luft geraten. Jetzt sind schnelle Entscheidungen gefragt. Sofort bei den Wanderern landen oder über dem Wiesenrücken eine letzte Thermikchance nützen? Die Wiese ist mir sympathischer als das Geröllfeld und die Wanderer ziehen unwillkürlich die Köpfe ein, als ich über sie hinweg fliege.
Ein Funke Hoffnung...
Der Almrücken zieht sich in die Länge, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, bis ich seine äußerste Kuppe, die markant in ein Waldtobel abbricht, erreicht habe. Hier müsste der Bart stehen. Nichts. Nur Baumwipfel unter mir. Umkehr, eine letzte Kurve und ich setze in einem Hochmoor auf. Der weiche Boden knotzt unter meinen Füßen. Knabenkraut, Sumpfblumen und fette Moose blühen. Ein Idyll. Nur leider in der Schweiz.
... verlischt im Sumpf
Ich habe weder etwas zu essen, noch einen Pass dabei. Die einfache Fahrt von uns zuhause bis in meine Nähe dauert mindestens eineinhalb Stunden. Ich blicke zurück zum Schweizertor und schätze den Fußmarsch mit maximal einer Stunde ein. Ich war noch nie gut im Schätzen. Markus ist leider nicht zu sehen. Auch übers Funk erreiche ihn nicht. Das Handy zeigt swisscom-Netz und ich stecke es griffbereit in die Hosentasche.
Plötzlich taucht Steffen auf. Er quert die Kirchlispitzenwand fast in derselben Höhe wie ich. Gespannt verfolge ich seinen Flug. Beim Schweizertor ist er die entscheidenden 10 Meter höher als ich vorhin war und – schwupps – ist er in Österreich. Ich bin baff. Was macht er dort? Hinterm Schweizertor geht es doch in alle Richtungen nur aufwärts!
X-Rhätikon
Zehn Minuten später bin ich unterwegs. Der Gedanke an die Redbull x-alps (Wettbewerb, bei dem Piloten entweder mit Fliegen oder Fußmärschen von Salzburg bis Monaco kommen müssen) geht mir nicht aus dem Kopf. Technische Hilfsmittel, wie Seilbahnen, Fahrzeuge, etc sind den Teilnehmern nicht erlaubt. Sie sind völlig auf ihre eigenen Kräfte angewiesen.
Meine Route erweist sich als schwieriger als erwartet. Karstige, von Alpenrosen überwucherte Felsrücken zwingen mich zu stetem Auf und Ab. Das Schweizertor scheint immer gleich weit entfernt. Nach gut einer Stunde erreiche ich endlich den Wanderweg, den ich zuvor als Landeplatz verschmäht hatte. Die erste Touristin, die mir begegnet, flehe ich um einen Müsliriegel an.
Funkstille
Markus meldet sich nicht, obwohl ich ihn alle paar Minuten anfunke. Einerseits wundert mich das, andererseits schirmen diese massiven Felswände wohl alle Signalwellen ab.
Die Wolke über der Drusenfluh verdüstert sich. Ich muss mich beeilen. Insgeheim hoffe ich, auf der Vorarlberger Seite nochmals starten zu können, um ins Rellstal zu fliegen und dort dann den Wanderbus nach Vandans nehmen zu können. Aber erst gilt es die Staatsgrenze zu erreichen!
Mittlerweile bin ich so hoch aufgestiegen, dass der felsige Einschnitt des Schweizertors unter mir liegt. Ab jetzt wird es gemütlich, tröste ich meinen müden Körper. Obwohl ich nur einen Leichtschirm mit Wendegurtzeug besitze, quetscht der Rucksack meine Bandscheiben schmerzhaft zusammen.
Da muss ich erkennen, dass der Wanderweg weit unters Tor hinab führt, auf der gegenüberliegenden Talseite in einem endlosen Zickzack bis unter die Felswände der Drusenfluh hinaufklettert und von dort nach einem erneuten Abstieg endlich die Staatsgrenze quert. Das bedeutet eine weitere Stunde Fußmarsch!
Verzweiflung macht sich in mir breit. Ich funke und funke, ohne Antwort zu erhalten. Markus wird sich Sorgen machen, solange er nichts von mir hört. Dieser Gedanke treibt mich unerbittlich weiter: Ich muss so schnell wie möglich auf die andere Seite der Felswände, die mich jetzt daran hindern, Markus mitzuteilen, dass es mir gut geht!
In der Hälfte der Strecke drohe ich zusammenzubrechen. Völlig außer Atem muss ich eine Pause einlegen. Zum Glück sprudelt da eine Quelle und ich kann meinen Durst löschen.
Endlich, endlich komme ich dem Schweizertor näher. Einmal glaube ich Markus Stimme in der Luft zu hören. Aber es sind bloß Kletterer, die sich rufen.
Das Zickzack kürze ich ab, kraxle einfach zwischen den Felsen hinauf. Dann muss ich auf den Weg zurück, der die Schlüsselstelle mit Eisenleitern und Klammern überwindet. Wie in Trance bewegen sich meine Beine schließlich über die saftige Wiese auf der österreichischen Seite.
Markus meldet sich nicht. Mittlerweile ist er wahrscheinlich schon im Tal und jetzt trennen andere Berge unsere Funkverbindung. Das Handy sucht vergebens nach irgendeinem Netz. Kein Empfang.
Was nun?
Ich steuere einen kleinen Hügel an, von dem ich glaube, dass er das Ende des Rellstales markiert. Das tut er. Aber meine Vorstellungen vom Landschaftsrelief stimmen nicht mit der Realität überein. Das Tal ist viel zu flach, gemessen am Gleitwinkel meines Schirmes. Ich muss also höher, weiter als mich meine müden Beine tragen wollen. Es nützt nichts. Wenn ich nicht starten kann, liegen einige Stunden Fußmarsch vor mir, bis ich bloß die Alpstraße erreiche.
Die Wolke über mir bildet Wassertröge aus. Cumulus mammatus nennen sich diese Ausbuchtungen, die an pralle weibliche Brüste erinnern. Die Himmelsbusen hängen bedrohlich herab. Ihre Fülle jagt mir Angst ein.
Am Ende...
Auf dem nächsten Hügel ist meine Kraft zu Ende und der Ausblick ernüchternd. Ich frage mich ernsthaft, ob ich den Schirm überhaupt auslegen soll, wenn ich am Fuß des Hügels, kaum dreihundert Meter weiter, ohnehin wieder landen werde. Nicht einmal Zeit gewinne ich durch einen Flug. Aber jede Strecke, die ich nicht laufen muss, empfinde ich als Geschenk und zerre den Schirm auseinander.
Niemals zuvor habe ich selbst einen Startplatz im Gelände bestimmt. Er ist nicht ideal. Disteln krallen sich in die Leinen, die Anlaufstrecke ist kurz und endet in einer steilen Schotterrinne. Gehe ich ein Risiko ein? Beeinflusst meine Müdigkeit und der Wunsch nicht mehr gehen zu müssen, mein Einschätzungsvermögen?
Ich bin schrecklich nervös. Könnte ich doch Markus um Rat fragen! Ein letztes Mal versuche ich ihn am Funk zu erreichen. Es ist fast ausgeschaltet. Ich stutze. War es das vielleicht die ganze Zeit? Hat sich der Lautstärkeregler beim Verheddern mit den Gurten zugedreht? Zu dumm, dass ich nicht früher an diese Möglichkeit gedacht habe, jetzt ist es zu spät!
Ich mache mich startklar. Der Wind schläft ein. Schweißtropfen perlen. Die Landschaft ist in düsteres Grau getaucht. Es riecht feucht. Da, eine Brise von vorne. „Jetzt oder nie“, rufe ich mir selber Mut zu und renne los.
Erschrockene Murmelpfiffe gellen durch die Landschaft, hallen von den Felswänden wider.
... beginnt etwas Neues
Ein Bilderbuchstart. Ich schwebe in erstaunlich ruhiger Luft. Das Vario registriert nur leichtes Sinken. Dadurch komme ich wesentlich weiter als ich gedacht habe. Da sich der Flug bereits rentiert hat, ist jeder zusätzliche Meter wie ein Jackpot.
Der Konturenflug entfaltet seine eigene Schönheit. Inmitten der steilen Talflanken, wo man sonst nie freiwillig fliegen würde, folge ich dem Lauf des Wassers unter mir, weil es wie ich die tiefste Stelle wählt. Es ist ein liebliches Bächlein, das im flachen Grün der Almwiesen mäandriert.
Gefühlsmäßig befinde ich mich in einem permanenten Landeanflug, da ich höchstens 20 Meter über Grund dahingleite. Setze ich dort neben dem Bach auf, oder geht sich die nächste Wiese noch aus? So kann ich den flachen Teil des Tales zurücklegen. Dann verschafft mir eine kleine Geländestufe einen Höhengewinn von vielleicht fünfzig Metern. Trotzdem bleibt es spannend. Das hintere Rellstal windet sich wie ein S in dessen Mitte die Zaluandaalpe liegt. Ein Güterweg endet dort. Als ich auf die Stallgebäude hinab blicke, atme ich erleichtert auf. Von hier aus könnte man mich mit einem Fahrzeug abholen.
Kaum sind die Sorgen weg, piepst das Vario. Geht es womöglich noch weiter bis zum Rellshüsle, wo der Wanderbus hält? Ich kann mein Glück kaum fassen, das mich sanft hundert Meter höher hebt. Es währt leider nur kurz.
Vor mir verengt sich das Tal, Wald drängt bis ans Flussufer, nur ein schmaler Wiesenstreifen bleibt frei. Aber die Luft ist derart ruhig, dass ich mir sogar dort eine Landung zutrauen würde. Bis ich die Strommasten sehe. Verdammt! Der Grünstreifen verdankt seine Existenz der Leitung! Trotzdem fliege ich weiter. Mein Vertrauen ist auf einmal grenzenlos.
In letzter Minute
Unter mir befinden sich nur mehr Tannen. Habe ich zu hoch gepokert? Das Telefon läutet, während ich fast an den Baumwipfeln streife. Aber falls es Markus ist, kann ich ihn nicht länger im Ungewissen lassen! Ich krame das Handy hervor, muss die Handschuhe ausziehen, um den Code einzutippen und merke erst danach, dass ich Markus ja gar nicht hören kann, weil ich einen Helm trage. Also schreie ich ins Telefon, dass ich mich in drei Minuten melden werde, weil ich gerade am Landen sei.
Handy und Handschuhe klemme ich zwischen die Beine, denn die Bäume kommen bedrohlich nahe. Ich quere die Stromleitung, ziehe die Bremsen durch und stehe direkt vor dem Rellshüsle. Im Sumpf. Zum zweiten Mal heute. „Yeaahhhh!“ Mein Triumphgeheul löst irritierte Blicke im Gastgarten aus.
Während ich das hinab gefallene Handy aus dem Moos berge und Markus Bescheid geben will, nähert sich ein seltsames Rauschen. Kaum habe ich den Helm zum Telefonieren ausgezogen, prasseln schwere Tropfen auf meinen Kopf. Die Wolke hat ihre Wasserbomben platzen lassen! Dieses perfekte Timing steigert mein Glücksgefühl ins Unermessliche und ich tanze im Sumpf. Im Rellshüsle sind sich die Besucher nun sicher, dass Fliegen in großer Höhe ungesund ist.
Erleichterung
Markus ist ebenfalls verwirrt. Er fährt mit dem Auto gerade Richtung Schweiz um mich abzuholen und versteht nicht, wieso ich behaupten kann, dass es im Rellstal wie aus Kübeln schüttet.
Es stellt sich heraus, dass er mich die ganze Zeit über am Funk gehört hatte, aber ich nie Antwort gab. Kein Wunder, da die Lautstärke offensichtlich durch ein Versehen abgedreht war. Er hatte auch meine Landung beobachtet. Aber dann musste er wegen der dunklen Wolke das Gebiet verlassen und konnte nicht sehen, dass ich mich auf den Rückweg nach Vorarlberg machte. Und da ich dummerweise nur funkte, dass ich gelandet sei, ging er mangels Information davon aus, dass ich in der Schweiz zu irgendeiner Alpe abgestiegen wäre.
Wie sollte er auch ahnen, dass aus einer unsicheren Angst-Hummel eine selbständige x-Hummel geworden war!
Nachtrag:
Armin flog an diesem Tag noch weitere 6 Stunden bis Landeck und wieder retour ins Montafon (insgesamt ein 138 km Dreieck). Steffen landete wie vermutet hinterm Schweizertor und stieg zu Fuß über den Öfapass auf einen Wiesenhang, von wo aus er Richtung Gauertal starten und sogar nochmals aufdrehen konnte. Reinhard strandete wie ich in der Schweiz, trat seinen Heimweg jedoch durchs Drusentor an. Und Thomas, der Eisenbahner? Er beobachtete uns von der sicheren österreichischen Seite aus zu und meinte bloß: „Das tu ich mir nicht an."