x-Hummelflug 2                   16. August 2013

 

Vorsätze

„Heute ist alles anders“, stelle ich mit Genugtuung fest. Vorfreude und nicht Angst lässt mein Herz schneller schlagen, je weiter mich die Gondelbahn den Berg hinauf trägt. Meine Zuversicht ist so ungetrübt wie das Himmelsblau.

Mein Golm-Debut vor drei Wochen, bei dem ich unfreiwillig in der Schweiz landete und ohne Verpflegung zu Fuß den langen Rückweg über die Staatsgrenze antreten musste, hat mir eine nachhaltige Lektion verpasst:

Im Rucksack stecken Trinkwasser und Müsliriegel und ich bin fest entschlossen, nicht in die Schweiz zu fliegen.

 

„Heute mache ich es ganz anders“, antworte ich daher den Piloten am Start, als sie mich augenzwinkernd fragen, wo ich denn dieses Mal zwischenlanden wolle.

„Man lernt aus seinen Erfahrungen“, gebe ich mich abgeklärt. Seelenruhig mampfe ich meinen Müsliriegel und spüle die Brösel mit dem letzten Schluck Wasser hinunter. Ein Picknick am Startplatz erschien mir doch sinnvoller, als Essen durch die Luft zu fliegen. Außerdem gibt es am Schrunser Landeplatz ein kleines Getränkedepot.

Während sich die meisten startklar machen, trödle ich herum. Steffen bemerkt meine Unschlüssigkeit.

„Was hast du vor?“, erkundigt er sich.

Wenn ich das wüsste! Ich kann nur sagen, was ich nicht vorhabe: Nämlich wieder in der Schweiz zu landen.

„Ist heimischer Boden gnädiger?“, hakt er grinsend nach.

Natürlich will ich in keinem der abgelegenen Täler absaufen, weder im In- noch im Ausland. Selbst wenn sich daraus, wie beim letzten Mal, ein unvergessliches Flugabenteuer (x-Hummel Teil 1) entwickeln  kann.

 

„Ich werde nirgendwo zwischenlanden!“, sage ich trotzig.

Steffens Augen blitzen amüsiert auf.

„Bist du dir sicher?“, fragt er kryptisch und wendet sich, ohne eine Antwort abzuwarten, seinem Gurtzeug zu.

 

Erste, zarte Wolkenschlieren bringen Hektik in das Geschehen am Startplatz. Ich blickte fasziniert nach oben. Obwohl der physikalische Vorgang der Kondensation nichts Mystisches mehr birgt, so ist der Moment, in dem das Blau beginnt, filigrane Gespinste abzusondern, für mich magisch geblieben. Über unseren Köpfen vernetzen sich nun die milchigen Fäden, weben eine lichtweiße Decke, die sich schließlich zu einem Kissen bläht, weitere Wattekinder gebärend. Die Cumuli sind vielversprechend hoch. Zu hoch für einen 0815-Flug im sicheren Bereich des Landeplatzes. Verdammt. Was tue ich jetzt mit meinem blöden Vorsatz?


Versuchungen

Eine viertel Stunde später kreise ich gemeinsam mit Steffen in großräumiger Thermik und schiebe die Entscheidung vor mir her. Lasse mir Zeit, genieße die Aussicht, hantiere mit dem Fotoapparat und steige dennoch unaufhaltsam höher. Mit jedem Hundertersprung am Vario wächst die „Verpflichtung“ etwas aus diesem einzigartigen Thermiktag zu machen. So sehr ich mich über den Wechsel von 2700 auf 2800 Meter freue, so vehement wehrt sich mein zuvor gefasster Entschluss gegen seine Missachtung. Meine Gefühle sind paradox, gedanklich argumentieren zwei konträre Standpunkte. Die Gemütlichkeit knallt der Abenteuerlust schließlich ihren letzten Triumph vor den Latz: „Du hast keinen Proviant mehr! Geh’ kein Risiko ein, sonst wird ein Leidensweg daraus.“

Wenn sich zwei streiten, handelt derweil ein Dritter. Ohne es bewusst entschieden zu haben, fliege ich bereits Steffen hinterher, der über den Golmergrat Richtung Schweiz davonzieht. Meinen Gedankendisput beruhige ich mit dem Versprechen, spätestens bei der Geißspitze umzukehren. Um das zu untermauern, parke ich mich überm Latschätzkopf ein, während Steffen die Drei Türme anpeilt. Sein Schirm spannt einen gelben Bogen ins Himmelsblau, die Felsen des Drusenstocks liegen ergeben unter ihm und ich spüre, wie mich bei diesem Anblick eine unwiderstehliche Sehnsucht packt. Oder ist es blanker Neid? Egal. Hastig verstaue ich den Fotoapparat. Jetzt hält mich nichts mehr über dem Hügel, dem ich eigentlich treu bleiben wollte. Die kurze Zeit hier reichte bereits aus um seinen mit Steinschuppen gespickten Grasrücken auswendig zu kennen. Auch die glasigen Seeaugen mit ihren langen Schilfwimpern auf dem Grat oberhalb von Platzis fesseln meinen Blick nicht länger. Ich will zur Sporaplatte! Zu dieser riesigen Kalkfläche, die aussieht, als hätten zwei der Drei Türme einen Bauchladen heruntergeklappt. Ein bisschen zu weit, sodass alles Überflüssige abrutschte. Kein Steinchen blieb auf dieser schrägen Ebene haften. Sie ist makellos.


Sporaplatte zum Greifen nah

Vor drei Wochen, als ich damit beschäftigt war, meinen Schirm zurück nach Österreich zu schleppen, konnte Markus die Sporaplatte überfliegen. Es sei ganz ruhig gewesen, erzählte er nachher. Verlockend ruhig. Er habe sogar überlegt, dort einzulanden, sich dann aber doch besonnen und einen Sicherheitsabstand von wenigen Metern eingehalten. Seine Schilderung brannte sich in mein Neidgedächtnis ein.

 

Heute liegt die Sporaplatte buchstäblich zu meinen Füßen, die in der luftigen Höhe von 2900 Metern baumeln. Die horizontale Distanz, die uns noch trennt, dürfte leicht zu überwinden sein, denn der bislang mäßige Nordwind wird von der starken Thermik abgeblockt und das Fliegen dadurch zu einem Kinderspiel. Am Grat zwischen der Geißspitze und dem Öfapass werde ich übermütig. Ich bin ja erst eine halbe Stunde in der Luft und möchte mein Rendezvous mit der Sporaplatte etwas hinauszögern. Um den Reiz zu erhöhen, rede ich mir ein. Insgeheim aber fürchte ich wohl, dass ich die Begegnung mit der Schattenseite des Drusenstocks mit viel Höhenverlust bezahlen könnte und dadurch eine unfreiwillige Landung in der Pampa riskieren würde. Genau das will ich heute unbedingt vermeiden!

 

Also entschließe ich mich Steffen zu folgen, der sich mittlerweile über den Kirchlispitzen befindet, und dort mit jedem Kreis die EU-Außengrenze zweimal illegal überquert. Um der warnenden Stimme (Achtung Schweiz!) in mir die Schärfe zu nehmen, drehe ich am Öfapass, dem letzten besonnten Grasrücken vor der Grenze, bis zur Wolkenbasis auf: 2940 Meter. Diese Höhe müsste sogar für meinen langsamen und leistungsschwachen Schirm reichen, um die Distanz zum nächsten Gipfel zu überbrücken.

Während ich zuversichtlich die Kirchlispitzen anpeile, fotografiere ich das Schweizertor unter mir. Belustigt denke ich an den letzten Flug zurück, an die Landung in der Schweiz und sehe mich in der Erinnerung meines Fußmarsches dort unten den Schirm schleppen, verzweifelt nach Markus funkend. Ich knipse auch den Minihügel, der mir danach als Startplatz diente und von meiner Höhe aus jetzt kaum als solcher erkennbar ist. Ohne den Tümpel daneben hätte ich ihn wohl nicht identifizieren können.

Kirchlispitzen, ein Déjà-vu?

Danach packe ich die Kamera weg und konzentriere mich wieder auf den Flug.

„Warum bin ich noch nicht weiter?“, wundere ich mich. „Ich fliege den Schirm doch fast ungebremst!“ Offenbar weht mir heftiger Wind entgegen. Damit habe ich nicht gerechnet.

Das Massiv der Kirchlispitzen kann man sich als Felsscheibe vorstellen, gleich einem bauchigen Riesenzahnrad, das hochkant in der Wiesenlandschaft steckt. Die Erosion hat zwar etliche Zähne abgenagt, aber ein paar eindrucksvolle Zacken sind stehen geblieben.

Ich hatte den höchsten Punkt dieses Grates angepeilt, den ich unter diesen widrigen Umständen jedoch nie erreichen werde, denn ich bin bereits unters Gipfelniveau abgesunken. Und es geht weiterhin rasant abwärts. Wenn ich mich nicht von den Felszacken aufspießen lassen will, muss ich jetzt schnell entscheiden: Links (Südseite) oder rechts? Schweiz oder Österreich? War da heute nicht schon einmal Nordwind im Spiel? Also Österreich!

 

Angst und Faulheit kennen viele Argumente. Ihre Einflüsterungen sind trotzdem falsch. Das wird mir sofort klar, als ich wie im Sackflug neben der Nordwand der Kirchlispitzen auf den Boden zusause. Keine Spur vom erhofften Nordwind, mit dem ich vielleicht hätte aufsoaren können. Im Gegenteil. Es muss Südwestwind vorherrschen. Das Lee spült mich erbarmungslos hinab. Am Verajoch schlage ich einen Haken retour, nachdem ich einen kurzen Blick Richtung Lünersee werfen konnte. Das wäre ein elender Fußmarsch geworden. Also rette ich mich zurück zum Schweizertor, zu meinem Starthügelchen vom letzten Mal, das ich vor zwei Minuten fotografiert habe.

 

„Bitte nicht!“, flehe ich eine unbekannte Macht an. Vergeblich. Der Schirm fällt am Boden zu einem Häufchen Elend zusammen, ich sinke daneben ins Gras. Gibt es denn keinen Fluggott mit Herz? Unbewusst wandert mein Blick nach oben, ich fühle mich beobachtet. Über mir am Himmel schwebt Steffen, der sich wahrscheinlich wundert und verständnislos den Kopf schüttelt.

Ich verstehe es selber nicht. Will es nicht verstehen. Viel lieber sähe ich mich in der Rolle des tragischen, griechischen Helden, der seinem vorbestimmten Schicksal nicht entrinnen konnte, obwohl er alles dagegen unternommen hatte. Nur leider hinkt der Vergleich. Hätte ich die sonnenbeschienene Schweizer Seite gewählt, so wäre ich jetzt mit ziemlicher Sicherheit auch dort oben. Halbherziges Streckenfliegen geht immer in die Hose.

Ich tröste mich mit dem Gedanken, wenigstens diesen Startplatz zu kennen und von hier aus wie letztes Mal zum Rellshüsle fliegen zu können.

 

Dabei hätte heute alles ganz anders sein sollen!

Nur ein Detail, für mich allerdings ein Wesentliches, ist anders: Der Wind fegt nämlich durchs Schweizertor und bläst durchs Rellstal hinaus. Rückenwind. Das kapiere ich erst jetzt. Ich kann hier unmöglich starten.

Die anderen Umstände sind gleich wie vor drei Wochen: Ein Fußmarsch liegt vor mir und ich habe keinen Tropfen Trinkwasser mehr.

 

Allein in der Pampa

Ich tippe ein SMS an Markus ins Handy, in der Hoffnung, dass es beim nächsten Kontakt mit einem Betreibernetz gesendet wird. Im Moment gibt es keine Möglichkeit irgendjemand anzujammern. Für meine Mitmenschen ist es sicherlich ein Glück, wenn ich mit meinem Frust und Durst allein bleiben muss.

x-Hummel, die 2. Auflage

Was nun?

„Jetzt steh’ ich hier am Schweizer Tor und bin so blöd wie drei Wochen zuvor“, dichtet meine innere Stimme frei nach Goethes Faust. Ich muss lachen, obwohl es mein eigener Einfall ist. Plötzlich empfinde ich die ganze Situation als einen absurden Witz und pruste los. Ein regelrechter Lachkrampf erfasst mich, wirft mich auf den Boden zurück und ich japse nach Luft. Während ich mich rücklings im Gras wälze, rupfe ich büschelweise Halme aus und schleudere sie in die Höhe. Der Wind reißt sie mit sich fort und sie tanzen ins Rellstal hinab. Mit tränennassen Augen blicke ich ihnen nach. Dorthin, wo ich Närrin glaubte, zum Rellshüsle fliegen zu können. Dass eine fixe Idee derart blind machen kann? Von wegen Nordwind! Jetzt kommt er eindeutig aus West, mitunter sogar aus Südwest.

Endlich ebbt das Lachen ab und ich kann überlegen, wie es weitergehen soll.

Die vom Wind angeströmten Bergflanken in meiner unmittelbaren Umgebung sind steil und felsdurchsetzt. Außerdem liegen sie im Schatten und sind wahrscheinlich feucht und rutschig. Ich beschließe daher auf den Öfapass zu gehen und mir dort oben ein Bild von den Windverhältnissen zu machen.

Es war die richtige Entscheidung. Als ich den Pass erreiche, steigen mir heftige, thermische Aufwinde aus dem sonnendurchtränkten Gauertal entgegen. In den stillen Phasen zwischen den Ablösungen streicht jedoch der kühle West den Pass hinab. Ich muss eine Startmöglichkeit mit stabileren Verhältnissen finden, abseits des Jochs, um dem Düseneffekt zu entgehen.

Es bietet sich der Wiesenhang zu meiner Linken an. Mit zunehmender Distanz zum Öfapass bessern sich zwar die Windverhältnisse, aber die Grasflanke ist viel zu steil für einen Start. Mittlerweile muss ich mich auf allen Vieren bewegen, um nicht abzustürzen.

 

Warnung: Wanderer können Ihre Gesundheit gefährden

Das Handy klingelt. Markus dürfte mein SMS erhalten haben. Reflexartig greife ich zum Telefon und lasse das Grasbüschel, an das ich mich geklammert hatte, los. Prompt verliere ich den Halt, rutsche aus, mache einen Stolperschritt und trete dabei einen großen, flachen Stein los. Ich bleibe zum Glück stehen, er aber gleitet die Wiese hinab. Erst ganz langsam und es scheint, als würde er gleich zum Stillstand kommen, in dem Moment aber, als ich Markus mit „Ja Schatz“ begrüße, stellt sich der Stein hochkant und beschleunigt. Offenbar nimmt er den einzelnen Wanderer unten auf dem Weg ins Visier. Ich brülle aus Leibeskräften: „Achtung! Aaaaachtung!“, und fuchtle wild mit den Armen. Der Mann zeigt keine Reaktion. Er ahnt nicht, welche Gefahr da in großen Sprüngen auf ihn zuhüpft.


„Achtung! Egon! Stein!“ Ich weiß nicht, was ich noch alles zur Warnung schreie, der Typ muss schwerhörig sein. Wie in Zeitlupe sehe ich den Stein zum letzten Mal aufspringen, beobachte, wie er weit in die Luft katapultiert wird, wo er torkelt, sich aber fängt und nur ein Ziel zu kennen scheint. Mir stockt der Atem. Schreien ist jetzt zwecklos. Das tödliche Geschoss segelt hoch über den Kopf des Mannes hinweg und schlägt zwanzig Meter hinterm Wanderweg mit dumpfem Knall in den Moorboden ein. Mir zittern die Knie. Markus Stimme ruft irgendwo zwischen den Grashalmen. „Bringst du grad jemanden um?“

Ich würde mich gerne hinsetzen. Aber das geht in diesem steilen Gelände nicht. Verdammt, wo ist das Handy? Markus’ „Was zum Teufel ist denn los?“, hilft mir es zu finden.

„Nichts“, antworte ich, „jetzt nichts mehr.“

Der Wanderer ist nun doch stehengeblieben und schaut misstrauisch zu mir hoch. Ich signalisiere ihm, dass ich mich nicht vom Fleck rühre werde und winke ihn vorbei.

 

„Kannst du mir bitte erklären, was du da treibst?“, lässt Markus nicht locker. „Ich dachte, du wolltest einen normalen Flug am Golm machen? Wo bist du denn überhaupt?“

Da ich noch eine weitere Wandergruppe vorbeiziehen lassen muss, habe ich Zeit alles zu erklären.

„Ich melde mich nach der nächsten Landung wieder“, verspreche ich am Schluss, obwohl ich noch gar nicht weiß, ob ich überhaupt einen Startplatz finden werde. Denn soweit ich mich erinnern kann, endet dieser Wiesenhang in einem schmalen Grat. Aber einen Versuch muss ich wagen, wenn ich nicht das Gauertal hinauslaufen will.

 

Seltsame Begegnung auf der Gipfeltoilette

Es fehlen mir höchstens zehn Höhenmeter bis auf den Gipfel. Der Hang bäumt sich ein letztes Mal auf, ich kralle meine Hände ins Gras. Dann bin ich oben.

Die Öfaspitze ist gar keine Spitze, sondern eine Ebene. Sie gleicht einer knapp unterm höchsten Punkt gekappten Pyramide. Auf dem winzigen Gipfelplateau wuchern kniehohe Brennnesseln. Das erstaunt, wenn man die vor der Witterung  hingeduckte Vegetation ringsum betrachtet. Ein Blick auf den Boden erklärt allerdings das Phänomen: Braune Knollen und Kügelchen in verschiedenen Stadien der Zersetzung. Schafe und Gämsen haben hier wacker gebömmelt. Ordinärer gesagt: ein Scheißplatz.

 

Auf einem halbwegs sauberen Fleckchen stelle ich den Rucksack ab und lüfte mein schweißnasses T-Shirt. In dieser Einsamkeit darf frau sich so etwas erlauben. Gerade als ich es mir über den Kopf ziehen will, höre ich etwas keuchen und halte erschrocken inne. Ich sehe zwei Hände, die über die Gratkante hinweg in die Brennnesseln greifen. Gleich darauf taucht der Kopf eines jungen Mannes auf.

Perplex starren wir uns gegenseitig an.

Um meine Verlegenheit zu überspielen, sprudle ich im breitesten Dialekt darauf los und streife hastig das T-Shirt wieder hinunter. Welch Zufall, hier einem Menschen zu begegnen, damit könne man ja wirklich nicht rechnen, und so weiter.

Dem Typ hat es die Sprache verschlagen. Wortlos schaut er mich an.

„Hat der noch nie eine halbnackte Frau gesehen?“, frage ich mich insgeheim.

Ich unternehme einen zweiten Versuch, die peinliche Situation ist mir schier unerträglich.

„Vo’ wo kunnscht denn du?“, frage ich, als ob es ungezählte Möglichkeiten des Aufstieges gäbe.

„Aus Leipzig“, antwortet er, offensichtlich erleichtert, endlich ein paar Wörter verstanden zu haben.

Jetzt ist es an mir, blöde zu starren. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sich ein deutscher Tourist auf die Öfaspitze verirren könnte.

„Und Sie?“, will er wissen.

Sie? Mein Gott muss ich alt aussehen, denke ich mir und versuche hochdeutsch zu formulieren, weshalb ich hier in den Brennnesseln stehe.

„Ich möchte von hier aus wegfliegen.“

Er reagiert nicht.

„Starten. Ich suche einen Startplatz!“, sage ich und deute auf meinen Rucksack.

Anstelle einer Antwort fingert er eine Digitalkamera hervor und knipst mich. Das letzte Foto einer Wahnsinnigen, die soeben nackt vom Berg segeln wollte.

Endlich fällt mir das richtige Wort ein.

„Paragleiten, Gleitschirm, verstehst du?“

Erleichtertes Nicken. Ein freundliches Lächeln. Dann verdüstern neue Fragen seine Miene, Misstrauen macht sich breit.

Er habe heute schon Gleitschirmflieger gesehen, sagt er, aber die seien oberhalb der Bahn „abgesprungen“. Weshalb ich derart weit gegangen sei, will er wissen.

Ich erkläre ihm, dass ich zwar mit den anderen gestartet sei, aber danach landen musste und nun ein zweites Mal starten wolle.

 

Die F-Frage: Fliegen oder Fußmarsch

Eine Weile lang ist er still und beobachtet mich, wie ich an der Kante des Gipfelplateaus entlang gehe und den Wind prüfe. Von der Westströmung ist kaum mehr etwas zu spüren, stattdessen dominiert die Thermik der steilen Gauertal-Südosthänge. Könnte man hier starten? Ich mache einen Versuch, klettere vorsichtig ein paar Meter hinab und stelle mich ungefähr im Abstand der Leinenlänge unterhalb der Kante hin. Würde ich den Schirm oben am Plateau ausbreiten, könnte ich ihn nicht einmal mehr sehen, geschweige denn die Leinen sortieren. Nie würde ich mich getrauen, diese Flanke hinabzurennen. Käme ich zu Sturz, wäre das die zweite Chance, einen unschuldigen Wanderer zu vernichten.

Die einzige Anlaufstrecke mit geringerer Neigung bietet der schmale Grat zwischen Nordwest- und Südosthang.

„Wo ein Deutscher raufkommt, kann ich auch hinunter rennen“, maße ich mir an. Der Wind muss allerdings passen. Ab und zu, wenn die wilde Thermik Pause macht, weht eine leichte Brise genau den Grat entlang herauf.

 

Mein Entschluss steht fest. Ich sage zu dem jungen Mann, der es sich zwischenzeitlich am Rand der Brennnesseln gemütlich gemacht hat, dass er mir helfen könne, falls er dies wolle.

Begeistert springt er auf und beginnt mich mit den üblichen, laienhaften Fragen zu nerven, während ich das Gleitschirmtuch über die Brennnesselspitzen drapiere. Manche der Stängel knicken ein, andere wiederum büscheln sich zu Lanzen und türmen kleine Zeltkegel ins Segel. Mein Yeti ist eine unebene, wogende Fläche, von einem Geflecht dünner Leinen überzogen, die man als Zahnseide verwenden könnte, wenn sie nicht derart verknotet wären. Es wird ein Geduldsspiel. Sowohl das Sortieren, wie auch die Fragen des Deutschen zu beantworten. Plötzlich sieht er einen Schirm über den Drei Türmen. Das Unvermeidliche folgt auf den Fuß.

„Wieso mussten Sie eigentlich landen? Dieser Pilot fliegt immer noch. Auch dort drüben ist jemand hoch über dem Gipfel!“

„Mir war langweilig.“

„L a n g w e i l i g ?“, wiederholt er gedehnt.

Ich lasse mir mit der nächsten Lüge etwas Zeit um glaubhafter zu wirken.

„Nein, ich musste mal..“

„…landen?“

„Aufs Klo“, füge ich erläuternd hinzu.

„Ach. Verstehe“, sagt er und wechselt rasch das Thema.

„Ist das Paragleiten nicht gefährlich? Haben Sie denn keine Angst?“

„Doch. Und wie. Mir schlottern die Knie, wenn ich an den Start denke.“

Der Kerl grinst und zwinkert mir zu. Er glaubt, dieses Mal den Scherz gleich kapiert zu haben.

Dabei war ich grundehrlich.

 

F wie Fahnenflucht...

Endlich bin ich mit dem Auslegen fertig. Jetzt zittern sogar meine Finger, während ich das Gurtzeug anlege. Entweder hat dies der Deutsche bemerkt, oder meine zunehmende Einsilbigkeit verriet meine Nervosität. Plötzlich hat er es eilig wegzukommen.

„Schönen Tach“, ruft er und trollt sich, bevor er Augenzeuge eines eventuellen Dramas werden kann.

 

Mist. Er hätte mir den Schirm hinten hochhalten sollen.

Ich hänge mich wieder aus, kontrolliere zum x-ten Mal die Kappe und die Leinen. Mein Herz hämmert von innen gegen den Brustkorb, als wolle es ausbrechen und sich wie mein vermeintlicher Helfer ebenfalls aus dem Staub machen.

Dann stehe ich erneut am Grat, die Gurten startbereit in der Hand. Thermik tobt zu meiner Rechten, wirbelt Distelsamen in die Höhe und rollt das Gleitschirmtuch ein Stückchen auf.

Ich warte, bis die Ablösung abgeflaut ist. Ich warte lange. In der Daunenjacke ist mir viel zu heiß. Oder heizt die Angst derart ein?

Schließlich schweben die Samensternchen wieder herab. Die Windstille markiert eine Zwischenphase, die vom Westwind abgelöst wird, der die Samen zurück ins Gauertal bläst. Gleich beginnt das Spiel von neuem. Ich hoffe auf eine ausgewogene Mischung der beiden Luftströmungen. Eine leichte Brise kündet die nächste Runde an. Sie wird stärker. Sie kommt direkt über den Grat auf mich zu, küsst mich ins Gesicht, auf beide Wangen gleichzeitig.

Ich laufe los.


 ... oder F wie Freude?

Der Zug auf beiden Gurten ist gleichmäßig, der Schirm steigt problemlos hoch und beißt sich sofort in die Thermik. Nach nur wenigen Metern kann ich den ersten Kreis einleiten, der mich über das Brennnesselplateau hinweg hebt. Mit drei, vier, manchmal sogar fünf Metern Steigen pro Sekunde schraube ich mich höher und höher. Meine Freude ist unbeschreiblich. Ich muss sie hinaus schreien. In die herrlich kühle Luft, die mir den Schweiß trocknet, in die fantastische Landschaft, die sich im Ringelreihen dreht und zu dem Feigling dort unten, der sich erschrocken in den steilen Wiesenhang duckt, bis er mich am Himmel entdeckt und zu winken wagt.

 

Rendevouz mit der Sporaplatte

Die Thermik lässt mich nicht mehr los. In einer schier endlosen Aufwärtsspirale trägt sie mich bis in die glockenartige Höhlung einer mächtigen Wolke hinauf. Bevor mich das feuchte Weiß zur Gänze vernebelt, fliege ich durch klamme Schleierfetzen Richtung Drei Türme. Der Vorhang reißt auf und schräg unter mir liegt die Sporaplatte. Mein Rendezvous!

Wie kann man nur so verliebt in eine Felsfläche sein? Mein Vario zeigt über 3000 Meter Höhe an. Ich könnte in einem zweiten Anlauf auf die Schweizer Seite wechseln und von dort aus einen bewundernswerten, kilometerlangen Streckenflug unternehmen. Wäre da nicht diese graue Glätte, die mich magisch anzieht. Es ist mir bewusst, dass die Sporaplatte bei Südwestwind im Lee der Drei Türme liegt und ich für einen Überflug viel Höhenverlust riskiere, aber immerhin habe ich fünfhundert Meter zu verschenken. Ein großzügiges Geschenk für ein Rendevouz.

Der Anflug ist ein Augenschmaus, obwohl sich die Makellose beim Näherkommen als nicht ganz so perfekt herausstellt, wie angenommen. Ihr Antlitz ist von einigen Falten gezeichnet, ein leichtes Stirnrunzeln, vielleicht wegen des verkümmerten Eisfeldes gleich nebenan, das in meiner Kindheit noch als Gletscher bezeichnet wurde.

Trotz dieser Furchen überwiegt der Eindruck von geschliffener Glätte. Ihr verdankt die Sporaplatte wahrscheinlich die Faszination. In einer von Menschenhand unberührten Landschaft existieren normalerweise keine geometrischen Formen. Die gewaltige, ebenmäßige, abschüssig geneigte Fläche sticht aus ihrer Umgebung, in der das natürliche Chaos herrscht, wie ein Wunderwerk hervor.

Ich bin beseelt vom Wunsch sie anzugreifen, ihre polierte Oberfläche zu befühlen, weil sie so anders aussieht als die Bergwelt ringsum. Jetzt versteh ich Markus’ Versuchung, dort einzulanden.

 

Von den fünfhundert Höhenmetern, die ich für meinen Überflug verbraten darf, ist schon mehr als die Hälfte verbraucht. Die Abwinde vom Eisjöchle schütteln mich kräftig durch, bis ich endlich direkt über der Sporaplatte bin. Ich packe den Fotoapparat ein. Meine Aufmerksamkeit gehört nur mehr dieser grauen Fläche, die mein Gesichtsfeld nun vollständig ausfüllt. Sechs Fußballplätze brächte man locker auf ihr unter, 45.000 Quadratmeter glatt gebügelter Fels.

 

Ich betrachte die feinen parallelen Linien, die der Regen in den Kalk gewaschen hat. Rasiermesserscharfe Minigrate säumen die Wasserspuren. Je tiefer ich auf dieses helle Grau hinabsinke, desto stärker wird das Gefühl über der Mondoberfläche zu schweben. Abweisend, lebensfeindlich und trotzdem von einer atemberaubenden Eigenwilligkeit, die mich in ihren Bann zieht. Mein Höhenvorrat schwindet rasant, ich weiß, ich sollte abdrehen, es wird sich nicht ausgehen, die gesamte Platte zu queren. Vielleicht droht Gefahr von Turbulenzen, wenn mich der Wind erfasst, der zwischen großem und mittlerem Turm hindurch strömt. Aber ich kann den Blick nicht lösen. Noch ist die Luft ruhig, vielleicht trügerisch ruhig, es ist mir egal.

 

Rasches Ende

Mein permanenter Höhenverlust drängt mich allmählich weiter zum unteren Rand der Sporaplatte ab, wo sie senkrecht hundertfünfzig Meter in ein wüstes Schotterkar abbricht. Widerwillig überfliege ich diese Kante und augenblicklich ist der Zauber vorbei. Normale Landschaft, ungeordnete Gesteinsbrocken, Almwiesen, Schneeflecken, alles in buntem Durcheinander ziehen unter mir durch.

Plötzlich packt mich der Südwestwind von hinten, er fühlt sich wütend an, und schiebt mich mit großer Geschwindigkeit von der Sporaplatte weg. Mir bleibt keine Zeit mich für einen letzten Abschiedsblick umzudrehen. Das Vario reagiert auf die wüste Vertreibung mit Sinkalarm und es sieht fast so aus, als würde ich nicht einmal bis zur Lindauerhütte kommen. Kurz vor der Geißspitze endet der Spuk zum Glück und ich schöpfe Hoffnung, den drohenden stundenlangen Fußmarsch durchs Gauertal noch erheblich verkürzen zu können. Im normalen Gleitflug schwebe ich schließlich bis zur letzten Wiese, bevor das Tal jäh in eine Waldschlucht übergeht, und lande dort.

Ich drehe mich um.

Die Sporaplatte liegt wieder unerreichbar fern im Schatten der Drei Türme.


„Schatz, ich bin gelandet!“, sage ich stolz ins Telefon.

„Schon wieder?“, fragt Markus vorsichtig, auf eventuelle Überraschungen gefasst.

Ich schweige beleidigt.

„Sollte heute nicht alles anders sein?“, zieht mich Markus in Anspielung auf meinen Vorsatz auf, den zweiten Flugtag am Golm mit nur einem Flug und ohne Fußmärsche zu beenden.

„Ist es auch!“, wehre ich mich trotzig. „Letztes Mal strandete ich im Rellstal, jetzt stehe ich im Gauertal.“

„Schaffst du es auch einmal bis zum Landeplatz?“

„Das nächste Mal, versprochen. Da wird alles anders!“


(...oder eine x-Hummel Episode 3)