Vom Trauern und Fliegen            2. Juli 2015

 

Seine Augen waren glasig und leicht gerötet. Als habe er getrunken. Auch schien er leicht zu schwanken, als er mir die Hand reichte.

Ich kam gerade von der Arbeit, einer Vermessung am Außergolm, und wollte mir am Rückweg ins Büro beim Michael die Jahreskarte für die Start- und Landegebühr abholen. Deshalb hatte ich ihn angerufen, deshalb stand er jetzt am Parkplatz vor seiner Firma.

 

Er hielt die Karte in der Hand, drehte sie nervös zwischen den Fingern, aber er gab sie mir nicht.

„Ein Unglück“, sagte er schließlich. Seine Stimme klang brüchig. „Die erste Tote am Golm.“

Augenblicklich erinnerte ich mich an den Hubschrauber. Darunter hing ein längliches Paket am Seil. Als ich ihn beim Abflug beobachtete, war ich erleichtert gewesen. Ein Materialtransport, dachte ich. Zuvor hatte ich einen Unfall befürchtet, aber nachdem das Motorengeräusch nach der Landung für fast eine Stunde verstummt war, vermutete ich Bauarbeiten an den Liftanlagen.

 

***


Es war ein herrlicher Sommertag. Der Wetterbericht hatte eine leichte Föhntendenz angekündigt, gleichzeitig aber auch die Entwicklung von Gewittern nicht ausgeschlossen. Am Morgenhimmel war nur der Südwind abzulesen. Linsenförmig geschliffene Wolken leuchteten wie silbrige Fische im Blau. Ich freute mich, denn schließlich musste ich im Gleitschirmeldorado eine Vermessung machen und wollte den anderen nicht beim Fliegen zusehen. Doch schon am Vormittag bildeten sich über den Gipfeln kleine Haufenwolken und die Föhnfische lösten sich auf. Kurz darauf startete der erste Gleitschirmpilot. Im Nu war er hoch im Himmel, fast ohne zu kreisen und mit dem Südwind zur Zimba hin versetzt. Ein zweiter Pilot folgte. Auch ihn riss es mit der starken Thermik in die Höhe. Mich fraß der Neid. Nur mit Mühe hielt ich den Blick auf mein Messgerät gerichtet. Eine halbe Stunde später kam der Hubschrauber. Er flog direkt zum Startplatz. Die Landung konnte ich nicht sehen, weil ich hinter dem Berg stand. Aber der Motor verstummte rasch. Es war sehr lange still. Zu lange.

 

***

 

„Willst du einen Kaffee?“, fragte Michael.

Ich nickte stumm. Der Kloß im Hals schnürte mir die Kehle zu.

„Eine Frau“, sagte Michael, „etwa in deinem Alter.“

Ich nippte am Kaffee. Verbrühte mir die Lippen.

„Ihr Mann und ihr Sohn fliegen auch“, sagte Michael und starrte in seinen Kaffee.

„Sie war oft am Golm.“

Monika. Monika. Monika. Eine Stimme schrie den Namen in meinem Kopf, aber ich konnte ihn nicht aussprechen.

„Du musst sie auch gekannt haben“, sagte Michael.

Monika. Monika.

„Mir fällt im Moment ihr Name nicht ein“, sagte Michael, immer noch die braune Flüssigkeit anstarrend.

„Monika“, brachte ich endlich hervor. Meine Stimme war mir fremd.

Michael nickte.

Unzählige Fragen lagen mir auf der Zunge, nach den Umständen, nach dem Wie und dem Warum – doch alle waren sinnlos. Worte erwecken keine Tote mehr zum Leben.

Wir schwiegen. Ich weiß nicht mehr wie lange.

„Der dritte tödliche Unfall in dieser Saison“, sagte Michael.

Ich wusste, dass der verunglückte Segelflieger ein Freund von ihm gewesen war.

Den Drachenflieger, der im Tirol abgestürzt war, hatten wir beide nicht gekannt.

Jetzt Monika.

„Drei Tote sind ein bisschen viel in dieser kurzen Zeit“, sagte ich, um die Monika-schreiende Stimme in meinem Kopf zu übertönen und Michael bei der Wortfindung abzulösen. Aber noch während des Sprechens war mir bewusst, was für einen Mist ich da von mir gab. Als wären zwei Todesopfer im Rahmen des Üblichen. Aber angesichts einer solchen Tragödie war mein Hirn gelähmt und das Herz konnte Gefühle nicht in sinnvolle Sätze gießen. Es schickte Schockwellen durch meinen Körper, die mit Gänsehaut und zittrigen Knien einhergingen. Das Unfassbare hockte bleischwer auf meiner Brust und zwang jedes Fluchtmanöver der Gedanken zum Ursprung des Schmerzes zurück. Sie ist tot. Monika ist tot. Vor Stunden noch schön und lebendig und voller Vorfreude auf den Flug. Jetzt – Nein! Doch.

Ich wischte mir die Tränen von den Wangen.

Michael stierte auf den Tisch.

Dann begannen wir erneut eine Unterhaltung um das Schweigen zu brechen, gaben Allgemeinplätze von uns, über das Risiko des Flugsports, wir nannten es Rest-Risiko, über die „abgelaufene Uhr“ und dass uns der Tod auch beim Autofahren ereilen könne.

 

„Wir wissen, dass das Fliegen gefährlich ist“, sagte Michael und sah mir plötzlich direkt ins Gesicht. „Und, hören wir jetzt damit auf?“

Wir mussten die Antwort nicht aussprechen. Sie war uns beiden klar.

Michael schob mir die Jahreskarte für die Start- und Landegebühr über den Tisch zu.

 

***

 

Auf einer Bergwanderung querte ich einmal einen See, im Glauben, es handle sich um eine sumpfige Ebene. Der Boden war weich und vom Moos schwammig, aber dazwischen ragten auch kleinere, von Polsterpflanzen geschaffene trockene Hügel empor. Als ich ungefähr in der Mitte der Fläche angelangt war, spürte ich, wie der Boden plötzlich nachgab und Wasser das Gelände flutete. Es quoll überall aus dem Moos. Ich stand auf einer Vegetationsdecke, die auf einem unsichtbaren See schwamm und sich nun unter meinem Gewicht absenkte. Die Polsterhügel wurden erst zu Inseln, dann gingen auch sie unter. Glasklares Wasser bedeckte das Grün. Auf den ersten Blick wirkte die Landschaft unverändert, alles schien wie vorher zu sein. Die Bedrohung war beinah unsichtbar. Wie tief mochte der See unter mir sein? Was, wenn die Pflanzendecke auseinanderriss? Im Moment holte ich mir bloß nasse Füße. Aber konnte ich einfach weitergehen?

 

***

 

Zwei Wochen nach Monikas Tod steige ich über die Treppe der Bergstation der Golmerbahn. Obwohl ich die Gummimatten unter den Schuhsohlen spüre, scheint mir der Boden zu schwanken. Als lauere auch hier ein unsichtbarer Abgrund, der mich zu verschlucken droht.

Schon in der Gondel hatte ich ständig an Monika gedacht. Es ist nicht so, dass ich sie gut gekannt habe. Mehr als ein paar Sätze hatten wir nicht miteinander gewechselt. Nur die üblichen Start- und Landeplatzgespräche. Meine Gedanken kreisten mehr um den Schmerz der Hinterbliebenen. Allein die Vorstellung, den geliebten Partner so unvermittelt zu verlieren, war für mich nicht auszuhalten. Aber das Schicksal fragt nicht, ob jemand die Last zu schultern vermag. Wie lange würde es wohl dauern, bis ihr Mann den Anblick einer Cumuluswolke ertragen konnte ohne innerlich aufzuschreien?

 

Mir fielen Michaels Worte wieder ein. „Wir wissen alle um das Risiko unseres Sports“, hatte er gesagt.

Natürlich. Auch Monika hatte es in Kauf genommen für die wunderbaren Momente, die ihr das Fliegen beschert hatte.

Doch als sie vor zwei Wochen über genau diese Treppe gegangen ist, dachte sie wahrscheinlich nicht daran. Genauso wenig wie sich jeder andere, der seinen Gleitschirm hier hinauf schleppt, klar macht, dass das Leben ein paar Stunden später aus sein könnte.

Ich aber denke jetzt darüber nach und gehe trotzdem weiter.

Ist das krank?

Ist das makaber?

Ist es pietätlos, wenn ich meinen Schirm auf dem Platz auslegen werde, auf dem Monika gestorben ist?

 

***

 

Es sind bereits andere Piloten auf dem Startplatz. Man begrüßt sich, redet übers Wetter und tut, als wäre nichts geschehen. Jeder ist auffallend intensiv mit seiner Ausrüstung beschäftigt. Bis einer plötzlich fragt: „Weiß man, wie es passiert ist?“

Er musste Monikas Namen gar nicht aussprechen. Sie war die ganze Zeit präsent gewesen.

Auf einmal reden alle durcheinander, als wäre ein Damm gebrochen, ein Tabu aufgehoben worden. Leider weiß niemand etwas über die Umstände des Unfalls.

Insgeheim hoffte ich zu erfahren, dass ganz außergewöhnliche Verhältnisse zum Absturz geführt hätten, irgendeine fatale Verkettung von Zufällen. Etwas, das so unwahrscheinlich war, wie aus heiterem Himmel vom Blitz getroffen zu werden. Alles ließe sich leichter ertragen als diese harmlose Wiese, die das Gefühl von Sicherheit, oder zumindest von einschätzbarem Risiko vermittelt.

 

Ich ärgere mich ohnehin über die Blumenpracht der Startwiese. Die Luft ist erfüllt von ihrem Duft und dem Schwirren der Insekten. Nirgends ein Zeichen der Trauer. Im Gegenteil. Das pralle Leben entfaltet sich. Darüber spannt sich der makellose Himmel als könne es unter diesem Blau kein Leid geben.

Aber tun wir nicht dasselbe? Breiten wir nicht unsere bunten Segel aus, um die Einmaligkeit dieser Landschaft von oben zu bestaunen? Selbst wenn wir vor dieser Schönheit die Augen verschließen würden, Monikas Augen ließen sich dadurch nicht wieder öffnen. Also starten wir. Einer nach dem anderen. Im vollen Bewusstsein des Risikos. Es werden äußerst intensiv erlebte Flüge. Im xc-contest ist später bei manchen ein zusätzlicher Eintrag zu lesen: „Diesen Flug widme ich Monika.“

 

***

 

Ich fliege an diesem Tag in die Silvretta. Überm Reutehorn kommt mir ein großer Adler ganz nahe. Er umkreist mich als wäre ich eine Luftboje, steigt neben mir weg, lässt sich im Sturzflug vor der Eintrittskante hinabfallen, startet Scheinangriffe von hinten und von der Seite, sodass ich Angst habe, er könnte sich in den Leinen verfangen. Überhaupt reagiere ich ziemlich panisch, nachdem ich seine Krallen und den wehrhaften Schnabel aus nächster Nähe zu Gesicht bekam. Aber ich kann den Vogel nicht vertreiben, meine Seitenklapper irritieren ihn nicht einmal, er blickt nicht auf das raschelnde Tuch, sondern direkt zu mir. Ich schreie ihn schließlich an: „Vogel was willst du?!“

Er schaut nur unverwandt mit leicht geneigtem Kopf und fliegt parallel neben mir her. Nach einigen Minuten ist er plötzlich verschwunden. Dafür sind die Gedanken an Monika umso präsenter.

 

Ich wünschte, ich könnte an Seelenwanderung glauben. Es wäre eine tröstliche Vorstellung.